Kultur

Die Türkei im Wandel

von Birgit Güll · 14. Oktober 2008
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Einen tief greifenden Wandel hat die Türkei in den letzten Jahren vollzogen. Allerdings seien dringende Probleme wie die Kurdenfrage, das Verhältnis des Staats zum Islam und das Armenierproblem nach wie vor ungelöst, betont Hermann. Wohin bewegt sich die türkische Gesellschaft also? Eine hierzulande häufig diskutierte Frage, denn die Türkei ist auf dem Weg in die Europäische Union. Und mit Blick auf die großen muslimischen Gemeinden in Deutschland steht die Frage im Raum, ob die erfolgreiche Ausbildung eines europäischen Islamismus gelingen wird.

Es ist nicht immer einfach, die Entwicklungen in der modernen Türkei zu verstehen. Der FAZ-Korrespondent Rainer Hermann verdeutlichte, dass viele Probleme, die das Land heute beschäftigen, auf die Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 zurückgehen. Zudem seien europäische Schemen nur bedingt auf die Türkei umlegbar, etwa die hier übliche Einordnung in Rechts und Links. Die Regierung Erdogan, die für den wichtigen Modernisierungsschub der letzten Jahre sorgte, sei nach unserem Schema eine konservative Partei.

Kulturkampf in der Türkei

Von einem Kulturkampf in der Türkei spricht der seit 1991 in Istanbul lebende Hermann. Dabei gehe es nicht um einen Konflikt zwischen Säkularismus und politischem Islam - die Trennung von Staat und Religion sei längst im Denken und Alltag der Türken verankert. Die Bruchlinie verlaufe vielmehr zwischen zwei unterschiedlichen Leitkulturen: der alten und der neuen Elite.

Da ist die alte Oberschicht, so der Türkei-Experte, das gebildete Bürgertum der Stadtzentren - vertreten in der von Atatürk gegründeten Staatspartei CHP. Es will die Religion aus allen Lebensbereichen verbannen. Dem steht eine neue Mitte gegenüber: Aus den anatolischen Provinzen kam diese nach dem zweiten Weltkrieg in die Städte und brachte ihre eigene Kultur hervor. Ihre politische Partei ist die AKP. Für diese neue Elite stehen deren Vorsitzender, Ministerpräsident Erdogan, und Staatspräsident Gül. Ihre Frauen tragen zwar Kopftücher - aber im Gegensatz zu der alten Oberschicht ist die neue Europa zugewandt.

Was ist die türkische Nation?

"Was ist die türkische Nation und wer hat das Recht sie zu definieren?" Hier liegt laut Herman der Grundkonflikt des Landes. Wie viel Raum bekommt die Religion im säkularen Staat und wie verhalten sich Zentrum und Peripherie zueinander - diese Fragen müssen geklärt werden.

Die alte Staatselite, die den Staat nach ihren Vorstellungen schuf, ließ keine Freiheiten zu. Der türkische Nationalismus gehörte zu den Gründungsprinzipen, und die damit verordnete kulturelle Homogenität sorgt bis heute für Probleme. "Denn viele türkische Staatsbürger definieren ihre Identität über ihre Kultur, die außerhalb des Türkentums liegt, verstehen sich dennoch selbstverständlich als Bürger der Republik Türkei", erläutert Hermann.

In wenigen Tagen wird der Journalist Istanbul in Richtung Abu Dhabi verlassen. Wenn er auch von Rückschlägen in den letzten Monaten spricht, ist er doch optimistisch. "Die Türkei ist dabei, die Vielfalt in ihrer Gesellschaft anzuerkennen", schreibt er im Buch. Die islamische Bewegung in der Türkei sei keine Bedrohung für Europa, ist Hermann sicher. Vielmehr biete sie vielleicht die Möglichkeit, zu einem europäischen Islam zu kommen, "den wir bitter nötig hätten".

Rainer Hermann: "Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei" Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2008, 315 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-423-24682-8



Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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