Kultur

Die Tücken teleologischer Geschichtsbetrachtung

von Die Redaktion · 19. Januar 2006

Bismarcks Nationalstaatsgründung, heißt es, war "ein Danaergeschenk an die Deutschen", behaftet mit dem "Keim seines Untergangs". "Keim" ist ein biologischer Begriff; jede Saat gebiert zwangsläufig eine bestimmte Pflanze, woran niemand etwas ändern kann. Dieser verräterische Terminus enthüllt sogleich das Grundproblem der Studie. Musste es zum Ersten Weltkrieg kommen?

Bismarck plagte der "Albtraum der Koalitionen". Das Reich, doziert der Autor, stand "mit dem Rücken zur Wand"; die europäischen Großmächte tendierten dazu, sich "auf Kosten Deutschlands zu verständigen". Deutschland übte eine prekäre Halbhegemonie aus, und es musste durch eine "Flucht nach vorn" versuchen, dieser "geostrategischen Falle" zu entkommen, die halbe in eine volle Hegemonie umwandeln. Aufgrund der Reichsgründung war dies "unvermeidlich". Man lese und staune!

Zum einen ignoriert Schöllgen die Differenz zwischen Bismarckscher und wilhelminischer Außenpolitik. Bismarck ergriff nie die "Flucht nach vorn", sondern hielt Deutschland für saturiert. Nichts spricht dafür, dass Bismarcks Nachfolger diese Politik nicht hätten fortsetzen können. Zweifellos unterliefen Bismarck Fehler. Wider besseres Wissen erwarb er Kolonien und irritierte seit dem Berliner Kongress von 1878 das Zarenreich. Jedoch war damit der Krieg keinesfalls vorprogrammiert.

Zum anderen vernachlässigt Schöllgen innenpolitische Hintergründe deutscher Diplomatie. Zugunsten der Ostelbier erhöhte Bismarck die Getreidetarife und schädigte so Russland. Gleichzeitig hielt Bismarck die Deutschen in politischer Unmündigkeit; sie lernten es nicht, außenpolitisch maßvoll zu handeln. Liegt darin ein unabwendbares Fatum? Schöllgen kümmert jedoch das Verhältnis von Außen- und Innenpolitik fast gar nicht.

In wilhelminischer Zeit unternahm Deutschland nur, was andere "auch taten oder zu tun müssen glaubten: den Schritt von der Groß- zur Weltmacht". Es sei "verständlich", dass die Reichsleitung etwa bei der Aufteilung Chinas "nicht ins Hintertreffen geraten" wollte. Kein Grund zur Aufregung!

Briten, Franzosen und Russen agierten zweifellos als extreme Kolonialimperialisten. Niemand bestreitet diese Tatsache. Aber das Reich nahm primär Europa ins Visier. "Die Deutschen", notierte der britische Außenminister Edward Grey 1906, "machen sich nicht klar, dass England stets gegen jede Macht, die eine Hegemonie in Europa aufrichtet, in Opposition getreten ist". Eben deshalb stärkte England seit dem Bau der Tirpitzschen Schlachtflotte die Koalition der Gegner Deutschlands. Professor Schöllgen zitiert Grey, fegt dessen Warnung allerdings ebenso zur Seite wie damals Wilhelm II.

Der Autor imitiert kaiserliche Propaganda. Deutschland hatte nur die Wahl zwischen Weltmacht oder Niedergang und sah der "Einkreisung" tatenlos zu, "bis es zu spät war". Letztlich wollten die Deutschen nur als "gleichrangige" Macht anerkannt werden. Also trifft die Hauptverantwortung am Debakel England; das perfide Albion schmiedete die antideutsche Koalition. "Begreiflicherweise" blieb den Deutschen nichts anderes übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um Bismarcks Reich zu konsolidieren.

Deutschland sei in den Strudel der Julikrise von 1914 geraten, weil es seinen letzten Verbündeten Österreich-Ungarn nicht verlieren wollte. Indes verlief die Abhängigkeit genau umgekehrt. Das innerlich zerfallene, kaum noch handlungsfähige Donauimperium vermochte ohne deutsche Zustimmung keinen Schritt zu gehen. Nur aufgrund deutscher Rückendeckung eskalierte die Julikrise, obwohl hierfür kein objektiver Grund vorlag. War es auch unabwendbar, dass bereits Ludendorff ein Ostreich "mit Zuchtstätten für Menschen" plante?

In allem sieht Schöllgen die "Quittung" für die Reichsgründung von 1871. "Der entscheidende Fehler war 1871 gemacht worden, mit der Reichsgründung". Hätten die Deutschen auf einen Nationalstaat verzichten sollen - aus Angst vor der eigenen Unfähigkeit? Die vielen "Quittungen" und ungedeckten Schecks, die der Autor ausstellt, sollte man nicht ohne Reklamation hinnehmen.

Die Darstellung der revisionistischen Außenpolitik der Weimarer Republik folgt traditionellen Bahnen, ohne dass dabei, wie auch hinsichtlich des Dritten Reiches, Neuigkeiten zutage treten.

Ähnlich verhält es sich mit der Nachkriegszeit. Am meisten interessieren wiederum Schöllgens Interpretationen. Konstruiert er für 1871 bis 1945 eine negative Teleologie, folgt nun deren positives Gegenstück. In Adenauer sieht er "einen Glücksfall", denn der Rheinländer habe die Deutschen "vor sich selbst" geschützt. Erst Adenauers Westintegration ermöglichte laut Schöllgen eine friedliche deutsche Einheit im europäischen Rahmen. Ob die Wiedervereinigung den Ostdeutschen oder Adenauer zu verdanken ist, bleibt zuklären.

Rolf Helfert

Gregor Schöllgen: Jenseits von Hitler. Die Deutschen in der Weltpolitik von Bismarck bis heute, Ullstein Verlag, Berlin 2005, 400 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 3-549-07-203-1.

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