Die Rede ist hier von der Galatabrücke, die sich über den Bosporus spannt und den alten mit dem neuen Teil Istanbuls verbindet, wo die Grenze zwischen Europa und Asien verläuft und der Orient
auf den Okzident trifft. Seit eineinhalb Jahrhunderten ist diese Brücke der eigentliche Lebensnerv der Stadt.
Während seiner Recherche hat Geert Mak mehrere Monate auf der Brücke verbracht. Er ist mit den Menschen ins Gespräch gekommen, hat ihre Geschichten und Sorgen gehört. So ist sein Buch
entstanden, das von Einzelschicksalen berichtet, die jedoch für eine ganze Nation stehen. Sei es das vom Parfümverkäufer, der auch schon Socken, Fisch, Wasser oder Obst verkauft hat und der sein
Dorf verlassen musste, weil er nicht verhungern wollte. Oder das des alten spanischen Ehepaar, das seit drei Jahren jeden Tag auf der Brücke sitzt, angelt und davon leben muss.
Ein alter Buchhändler hält für ihn eine kleine Vorlesung über die Soziologie der Brücke. Er beschreibt eine Art ökonomische Segregation der auf der Brücke Lebenden und Arbeitenden: dass man
zum Beispiel keinen Fisch verkaufen kann, wenn man nicht aus der Stadt Erzincan stammt; dass die Kurden keinen Zugang zum Fischhandel haben, dafür aber das Monopol über den Zigarettenhandel
besitzen.
Mak erzählt von Menschen, die in die Stadt kamen, um dort ein besseres Leben zu führen, und wie sie daran gescheitert sind. Allerdings erscheinen seine Gesprächspartner trotz ihrer
unerfüllten Träume nicht hoffnungslos. Sie schätzen ihre Lage realistisch ein. Sie freuen sich darüber, dass es ihre Kinder besser haben werden als sie, denn diese erhalten an staatlicher Schulen
und Universitäten eine gute Ausbildung.
Wie ist sein Buch bei den Menschen auf der Brücke angekommen? Ein holländisches Fernsehteam hat einen Kellner im Galatacafé an der Brücke befragt. Er äußerte sich positiv. Leider, so Mak, war
es nicht der Kellner, mit dem er damals gesprochen hatte. Sondern einer, der das Buch gar nicht kannte. Die Türken neigten zu überschwänglichen Komplimenten. Ökonomisch allerdings sei das Buch bis
jetzt ein voller Erfolg, nicht nur für ihn, sondern auch für die "Brückenbewohner". Nachdem das Buch auf türkisch in den Niederlanden erschienen war, seien die holländischen Türken nach Istanbul
gereist und hätten die Brücke besucht.
Wer eine Reise nach Istanbul machen möchte, solle dieses Buch unbedingt lesen. Er erfährt zwar nicht viel über die Sehenswürdigkeiten der Stadt, aber sehr viel über das Leben und die Menschen
dort. Mak überliefert die einfachen Alltagsgeschichten und macht so die Vielfältigkeit, Zwiespältigkeit und die kulturellen Unterschiede in der Gesellschaft Istanbuls deutlich: den immerwährenden
Kampf zwischen Tradition und Moderne.
Mamke Kühl
Mak, Geert: Die Brücke von Istanbul. München: Pantheon Verlag 2007, 126 Seiten, 9,95 €, ISBN: 978-3-570-55040-3
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