Kultur

„Die Sehnsucht bleibt“

von ohne Autor · 9. Oktober 2011
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vorwärts.de: Frau Kuckart, Sie bezeichnen Gelassenheit als Ihr Lebensmotto. Ist Ihnen die Lust an Provokation und Abgrenzung vergangen?
Judith Kuckart: Gelassenheit hat nichts mit Altersschwäche zu tun. Dieses Gefühl ist eine Wunschvorstellung. Man wünscht sich, dass man innerlich eher blau angestrichen ist als schwarz: als Symbol für ein souveränes Bei-sich-Sein.

Lässt sich Subversion konservieren oder wandelt sie sich im Laufe der Jahre?

Im Leben passiert so viel. Dinge, die einen früher in Kampfstimmung versetzt haben, relativieren sich. In der zweiten Hälfte des Lebens geschehen schlimmere Dinge als in der ersten: Eltern und Freunde sterben. Wenn die Welt anfängt, mit Gewalt auf einen zuzugreifen, dann hält man dagegen und wählt das andere Wort mit "G" - Gelassenheit!

Eines Ihrer Idole, Ex-Dead-Kennedys-Sänger Jello Biafra, setzt nach wie vor auf Erkenntnis durch Schock. Kann man seine Wut über Jahrzehnte authentisch erhalten?

Ich glaube schon. Ich kenne genug Leute, die das machen, hauptsächlich im Kunst- und Musikbereich. Da hat die Wut noch ein Ventil. Bei diesen Menschen entweicht die Luft genau dort, wo sie herausgekommen ist, als sie 20 Jahre alt waren.

Was macht Sie heute noch wütend?

Die Gegend, in der ich gerade wohne. In Meerbusch bei Düsseldorf leben lauter Multimillionäre. Das ist ein Reichtum, der genetische Veränderungen verursacht. Ein Blatt liegt auf der Straße. Es wird ein Gärtner gerufen, der es über die Straße trägt und mit einem Laubbläser in den Container jagt. Bei Glatteis fällt man hin, hat sich die Hüfte vierfach gebrochen und schreit wie am Spieß.Die teuren Gardinen bewegen sich ganz leicht, aber keiner kommt und hilft. Es könnte ja der Trick eines Einbrechers sein!

Was hat Sie zu Punk-Zeiten in Kampfstimmung versetzt?

Das hat eine Menge mit Zugehörigkeit zu tun. Anfang der 80er-Jahre wohnte ich in Kreuzberg am SO36. Die Freunde meiner Mitbewohnerinnen hatten eine Punk-Band. Über die bin ich an Mufti (alias FM Einheit, NM) und die Einstürzenden Neubauten gekommen. 1989 bekam unser Tanztheater den Auftrag, eine Oper zur Französischen Revolution in Duisburg zu produzieren. Ich dachte mir: Ballettmusik von Mufti, das wäre doch super! Und Mufti hat beim ersten Treffen gesagt: Ballett Musik wollte ich schon immer schreiben, aber kannst du mir mal eben 200 Mark leihen?

Für jene Oper "Charlotte Corday" schrieben Sie das Libretto. Diesen unvorhergesehenen Startschuss als Autorin schildern Sie in "Punk Stories". Was bedeutet Ihnen, bezogen auf das Schreiben, die punktypische Do-it-yourself-Idee?

Wenn man mit seinen Qualitäten aus den alten Bereichen gut umgehen kann, lassen sie sich leicht in die neuen übertragen. Es hat viel mit meinem Lebensgefühl vor 1989 zu tun: Dass ich das, was ich mache, immer erst dann gut finde, wenn ich mich selbst damit überrasche. Dass sich ein Text oder eine Figur so entwickelt, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe. Das funktioniert aber nur in einem System, das auch etwas mit Handwerk oder Disziplin zu tun hat. Dazu gehört das Gefühl, dass man sich selber organisieren muss, wenn man überleben will.


Immer wieder haben sie das Thema Rebellion aufgegriffen. Wie halten Sie es mit dem Ramones-Motto "I'm against it"?

Es ging mir (fast) nie um die Ästhetik zerschlagener Fensterscheiben, sondern um eine Grundhaltung. Hätte ich die nicht, würde ich weder diese Bücher schreiben noch dieses Theater machen. "I'm against it" - das kann man in all dem gut wiederfinden. Es kommt als Geschichte daher und findet eine Tonlage, die vielleicht dann auch andere mit mir teilen für die Zeit eines Buchs.

Welche Rolle spielte der Berliner Underground für Ihre künstlerische Entwicklung? Haben Sie aus jener Zeit etwas für Sich mitgenommen?

Ganz bestimmt. Doch von den richtig guten Sachen, die man mitgenommen hat, weiß man gar nichts. Das wohnt dann in einem selber, ohne dass man die genaue Anschrift kennt. Man sollte diese Art von Reichtum stillschweigend akzeptieren, anstatt sie zu beschreiben.

Viele Schauplätze der "Punk Stories" sind heute bedroht. Was bleibt vom Geist nonkonformer Milieus?

Leute, die auch optischanders sind, gibt es immer noch. Die Sehnsucht, die so bis in die Haarspitzen ihren ästhetischen Ausdruck findet, ist offensichtlich geblieben. Viele andere Jugendbewegungen sind in irgendeiner Mode für alle und von der Stange aufgegangen und wieder verschwunden.

Gibt es etwas, was Sie von damals gerne in die Gegenwart retten würden?
Ein anderes Gefühl zur Nacht. Das hat was mit der Musik, Kreuzberg und dem SO36 zu tun - dass man sich im Dunkeln zurecht findet. Das ist allerdings schwierig. Wenn man älter wird, kriegt man mehr Angst vorm Dunkeln. Denn nachts ist es so dunkel wie unter der Erde.

Was war Ihr letztes Punk-Konzert?

Das müssen die Dead Kennedys gewesen sein, so vor 15 Jahren. Fragen sie mich lieber, wann überhaupt mein letztes Konzert war! Mit Mitte 30 bin ich völlig in diesem Theaterkram gelandet. Die Zeit, die jetzt noch bleibt, verbringe ich lieber mit Freunden.

Heute stehen vor allem flache Hierarchien und Transparenz im Mittelpunkt kreativen Protests. Sind die Aktivisten von der Piraten-Partei die neuen Punks?

Wie gesagt: Etwas von der Sehnsucht geht nicht kaputt. Wenn Leute, die meine Enkel sein könnten, die gleichen ästhetischen Form wählen wie damals, kann man sagen, dass die von der Piratenpartei die neuen Punks sind. Das ist ein Moment in einem selber. Wenn ich in einem Staatstheater inszeniere, merkt man sofort: Das ist jemand, der die üblichen Wege nicht einhält, weil er sie nicht kennt oder nicht akzeptiert. Jemand, der sofort im normalen Betrieb einen unbequemen Ensemblegeist aufbaut für die Zeit der Produktion. Das bleibt auf jeden Fall: Dass man versucht, den kürzesten Weg zu gehen, und vielleicht auch gemeinsam.

Einst speiste sich die Punk-Bewegung aus empfundener und tatsächlicher Ausgrenzung. Die deutsche Gesellschaft ist heute offener, jedoch wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. Warum wird diese Krisenerfahrung kaum kreativ verwertet?
Vielleicht weil man die Armut nicht ernst nimmt, die auf weite Teile der Bevölkerung zukommen wird. Weil man heute seinen Kopf ins Netz vor dem Computer steckt, so wie man früher den Kopf in den Sand gesteckt hat. Ein Großteil der Energie, die sagt, man müsste sich wehren, fließt in die Tasten und wird abgeleitet - und weniger in eine direkte Aktion auf der Straße oder dahin, dass man gemeinsam sieht, was man angerichtet hat.


Sie sehen eine fehlende Unmittelbarkeit?

Ja, es hat zu tun mit dem Nebeneinander von analogem und digitalem Leben. Manche führen zu 80 Prozent eine digitale Existenz - und das sind nicht die Ältesten von uns, sondern die Jüngeren. Die Zukunft.

Welche Antworten auf die Schieflagen des Kapitalismus erwarten Sie von der Kunst?

Ich würde mir wünschen, dass es wieder andere Solidaritäten gäbe. Dass Dringlichkeiten gemeinsam formuliert werden. Sei es, dass man protestiert, wenn ein Theater - wie zuletzt in Wuppertal - geschlossen werden soll. Dass man selber Theater oder Verlage gründet.

Schafft das Netz nicht auch neue Formen von Öffentlichkeit?

Es ist eine Form von allgemeiner Aufgeklärtheit. Das hat nicht viel mit Aktivismus zu tun. Aufklären lassen konnte man sich früher auch an der Volkshochschule.

Interview: Nils Michaelis

Infos zum Buch: Punk Stories, herausgegeben von Thomas Kraft, Alexander Müller und Arne Rautenberg, LangenMüller 2011, 317 Seiten, 14,99 Euro

Judith Kuckart (1959 geboren in Schwelm) ist Schriftstellerin, Regisseurin, Choreografin und Tänzerin. 1985 gründete sie das Tanztheater Skoronel. Seit Beginn der 1990er-Jahre erscheinen Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Hörspiele. Für ihr Werk, in dem sie auch deutsche Zeitgeschichte verarbeitet, wurde Kuckart unter anderem 2009 mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.

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