Kultur

Die Rollen ihres Lebens

von Birgit Güll · 15. April 2013

Wie wirken wir auf andere? Wie weit verändern Zuschreibungen von außen das eigene Handeln? Die Schriftstellerin Eva Menasse zeigt die Hauptfigur ihres Romans „Quasikristalle“ durch die Augen anderer.

Sie ist Teenager, Tochter, Patientin, Chefin, Freundin, am Ende Großmutter. Eva Menasse begleitet ihre Protagonistin Xane Molin durch ein ganzes Leben. Dabei wählt sie eine außergewöhnliche Erzählperspektive: Sie setzt ihre Figur aus den Wahrnehmungen anderer zusammen. In 13 Kapiteln zeigt Menasse ihre Hauptfigur in unterschiedlichen Lebensabschnitten und Rollen. Jede Erzählerin und jeder Erzähler beleuchtet andere Facetten von Xane Molins Persönlichkeit. Gleichzeitig dient sie ihnen als Projektionsfläche ihrer eigenen Geschichten und Gefühle.

Alles beginnt mit einer Kinderfreundschaft. Drei Schülerinnen, die die Machtverhältnisse ihrer Beziehung ausloten. Xane verbringt den Sommer bei ihrer Freundin Judith. Die dritte im Bunde, Claudia – von Judith und Xane als weniger hübsch befunden – ist verreist. Auf ihre Kosten machen die beiden Witze, um die Zweierachse zu stärken. Als Claudia plötzlich stirbt, bekommen die kleinen Bosheiten eine bleierne Schwere. Das Begräbnis der Freundin markiert „das Ende der Kindheit“.

Die Last der Nachgeborenen

Das nächste Kapitel zeigt Xane Molin als junge Frau bei einer Führung durch das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz. Sie hat jüdische Vorfahren und ist eng befreundet mit einem jüdischen Widerstandskämpfer über den sie – das werden erst spätere Episoden enthüllen – einen Film machen und an einem Buch mitarbeiten wird. Auf seinen Spuren erkundet Xane mit einer Studiengruppe den Ort, der zum Symbol des nationalsozialistischen Massenmordes geworden ist.

Professor Bernays führt die Studenten durch das Lager. Aus seiner Sicht, aber in der dritten Person beschreibt Menasse die Ereignisse. Bernays, fasziniert von der 15 Jahre jüngeren Xane, gefällt sich darin, abwechselnd den Lehrmeister und den Macho („Pass mal auf, meine Süße...“) zu geben. Mehr als ein Kuss und ein paar Telefonate werden von der Bekanntschaft nicht bleiben. Die Episode ist eine der stärksten des Buches. Die Autorin verwebt die Fragen nach der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Schuldgefühle der Nachgeborenen zu einem dichten Netz. Dabei wird sie niemals didaktisch und rutscht nicht in Plattitüden ab.

Ein Reigen an Charakteren

Meisterhaft wechselt Menasse ihre Erzählperspektiven. Sie entwirft Heike Guttmann, Ärztin in einer Fruchtbarkeitsklinik. Xane Molin hat sich nach mehreren Fehlgeburten in ihre Hände begeben. Die Ärztin versucht Motive und Reaktionen ihrer Patientinnen zu durchschauen und teilt sie entsprechend in Kategorien ein. Während sie Xane Molin charakterisiert, reflektiert sie die eigene Doppelrolle als erfolgreiche Medizinerin auf der einen und Ehefrau und Mutter auf der anderen Seite.

Eine wunderbare Figur ist auch  der Wiener Vermieter, der mit Hilfe einer Spiegelscherbe in die Wohnung der jungen Xane linst und prompt ihre nackten Brüste sieht. Er pflegt seine Rosen und will nicht über die Vergangenheit – schon gar nicht über die nationalsozialistische – sprechen. Lieber füttert er seine Frettchen und nennt das Stärkste unter ihnen Adolf.

Es ist ein Vergnügen die dichten Episoden zu lesen. – Bis Menasse ihre Heldin selbst sprechen lässt. Die Enttäuschung ist groß, wenn die bis dahin so facettenreich Beleuchtete – Filmemacherin, politisch Engagierte, Chefin einer Guerilla-Werbeagentur – sich als Frau mittleren Alters entpuppt, die sich hauptsächlich darum sorgt, ob sie für Männer noch begehrenswert ist. Das Ganze kulminiert in der Feststellung: „Frauen haben ein Ablaufdatum, Männer nicht“.

Die Nabelschau bringt den Umschwung

Leider ist diese Episode in der Mitte des Buches kein Tief, sondern markiert eine Bruchstelle. Von da an werden die Episoden kürzer. Ein Angestellter lässt sich über die neurotische Chefin Xane aus. Ihre Freundinnen lassen sie im Stich, als es ihr schlecht geht. Die doppelten Böden, die dichten Textgewebe der vorhergehenden Episoden gibt es nicht mehr.

Menasses Heldin wird nur älter, der Roman rückt in die Zukunft vor. Um das deutlich zu machen, versteigt die Autorin sich zu Prognosen. Da sind die „vernichteten Banken, die gesundgeschrumpfte EU, die beiden großen Währungen, die es nicht mehr gab“. In Menasses Zukunft ist das Pflegesystem kollabiert und man kommuniziert über Smartpads. Das wirkt gewollt und wäre nicht nötig, um bei der Protagonistin zu bleiben – im Gegenteil. Doch die Autorin lässt sich dazu ebenso hinreißen, wie zu einer krimiartigen Episode. Mit dem Ergebnis, dass die Figuren der späteren Episoden keine Tiefe mehr haben.

Quasikristalle hat Menasse ihr Buch genannt. Für die chemische Entdeckung dieser Struktur, die wie ein Kristall aussieht, letztlich aber nicht das strenge geometrische Muster aufweist, gab es den Nobelpreis. Menasse schafft eine andersartige Romanstruktur, sie setzt ihre Hauptfigur aus unterschiedlichen Perspektiven zusammen. Diese Komposition ist so gewagt wie faszinierend. Doch am Ende trägt sie nicht.

Eva Menasse: „Quasikristalle“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 432 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-462-04513-0

Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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