Wer das Buch der jungen Wissenschaftlerin Bettina Munimus über Heide Simonis, der ersten Ministerpräsidentin Deutschlands, in die Hand nimmt, ihren "Aufstieg und Fall", wie es im Untertitel
aus der Schriftenreihe des Göttinger Instituts für Demokratieforschung heißt, kann sich auf 166 Seiten interessante Lektüre freuen. Der Autorin gelingt es, in verständlicher Sprache ein Portrait
von Heide Simonis zu zeichnen, das ihr in vielem gerecht wird.
Wie Heide Simonis es in ihrem Geleitwort zu diesem Buch ausdrückt, so kann man auch als kritischer Leser natürlich nicht jeder Wertung zustimmen, die die Autorin vornimmt. Als langjähriger
Mitstreiter von Heide Simonis (12 Jahre, davon 9 Jahre in verschiedenen Positionen in der von ihr geführten rot-grünen Regierung) fällt das eigene Urteil natürlich ohnehin subjektiv aus.
Munimus betont die Bedeutung Simonis' internationaler Erfahrungen, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Professor Udo Simonis in Japan und Sambia gesammelt hat. Wenn ein wichtiges Kriterium
für politischen Erfolg die Mischung aus Vertrauenswürdigkeit, Integrität und Medienkompetenz sind - wie es die Autorin ausdrückt -, so kann man ganz gewiss sagen, dass dieses für Heide Simonis
zutrifft.
Als "geachtete Außenseiterin" durchgebissen
Kennzeichnend für ihren Aufstieg ist, dass sie sich regelrecht durchgebissen hat. Heide Simonis beschreibt ihre Kindheit und die Beziehung zu ihren Eltern so, dass sie sich öfter hat in
ihrem Leben durchsetzen müssen. Sie sei, so Munimus, in ihrer ganzen Karriere "geachtete Außenseiterin" geblieben. Mit 33 Jahren 1976 in einem eher konservativen Wahlkreis sich gegen einen
bekannten Bauernfunktionär durchzusetzen, das ist ein Muster, das sich auch an anderen Stellen ihres Lebens wiederfindet.
Dass sie es schaffte, innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion gleich in den von ihr angestrebten Haushaltsausschuss zu gelangen (machtvoll und wichtig, aber für Bundestagsneulinge - erst recht
Frauen - in der Regel unerreichbar), spricht ebenso dafür wie die Tatsache, dass sie überhaupt in einem Feld, das weitgehend eine Männerdomäne ist, ihren Aufstieg vollzogen hat. Sie war nie "Frau
Frau", punktete also nicht mit klassischen sozialpolitischen oder frauenpolitischen Themen, sondern profilierte sich als Haushalts- und Finanzpolitikerin. Das wird in dem Buch sehr deutlich.
Links, dickschädelig und frei
Auch dass Heide Simonis, die durchaus aus der linken Ecke der Sozialdemokratie kam, sich als strenge Haus¬hälterin und als harte Verhandlerin auf Arbeitgeberseite bei Tarifverhandlungen im
öffentlichen Dienst profilierte, wird zutreffend beschrieben. Dies ändert auch nichts daran, dass Heide Simonis auch als Regierungschefin immer mit dem Landesverband der SPD in
Schleswig-Holstein, der sich links, dickschädelig und frei nennt und seit den Zeiten Jochen Steffens immer eine bestimmte Rolle gespielt hat, bei den meisten politischen Themen in Übereinstimmung
blieb. Anders als anderswo, wo die SPD in Regierungsverantwortung eher konservativer geworden ist, trifft dies weder für die schleswig-holsteinische SPD nach 1988 noch für die Regierungschefin
Heide Simonis zu.
Die Autorin stellt zu recht fest, dass Heide Simonis' Hinweis "Es ist gut, wenn man einen Wiedererkennungswert hat" etwas Charakteristisches bezeichnet, das in der Medienwelt von heute und
in der Politik sicherlich eine ganz große Rolle spielt. Ob das ihre Vorliebe für Hüte und Ringe, ihre Begeisterung fürs Quilten oder die Flohmarktbesuche angeht - Heide Simonis war in der Tat
immer unverkennbar typisch.
Gleichzeitig gelang es ihr dabei, und auch dies hat die Autorin richtig analysiert, die Abgehobenheit zu vermeiden, die allzu viele Politiker kennzeichnet, wenn sie es in die ersten Ränge
der Politik geschafft haben. "Heide ist eine wie du und ich" - das stimmte immer, auch wenn sie sehr individuelle Eigenschaften hat. Ihre Sprache, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, die
traditionelle Kieler-Woche-Eröffnung mit dem flotten Spruch "Macht keinen Scheiß" an die Tausenden von Besuchern auf dem Kieler Rathausplatz zu beenden -"Kesse Sprüche und verbale Authentizität",
das war in der Tat immer kennzeichnend für Heide Simonis.
Einsatz für die Schwächsten
Dass der ein oder andere aus der politischen Klasse über die Sprache und diese Eigenheiten gelegentlich die Nase rümpfte, änderte nichts an der enormen Beliebtheit, die sich Heide Simonis
im Laufe ihrer Amtszeit in der Bevölkerung erworben hat. Sie saß nie im Elfenbeinturm, hielt sich nie für etwas Besseres und zeigte auch stets, dass sie sich für die Menschen und ihre
unmittelbaren Anliegen interessierte.
Sie war in der Tat weniger diejenige, die politische Visionen verfolgte, sondern die, die Konkretes tun, z. B. damit Menschen eine ordentliche Wohnung oder einen Kindergartenplatz bekommen
- das stand bei ihr im Vordergrund und kennzeichnete auch noch ihr Wirken nach dem Ausscheiden aus der Politik. Anders als andere suchte sie sich keinen gutbezahlten Wirtschaftsjob, sondern ging
zu UNICEF, um weiter für Kinderrechte ein¬zutreten, was sie jahrelang immer wieder getan hatte. Auch die viel geschmähten Auf¬tritte bei einer Tanzshow im privaten Fernsehen sollten Erträge
zugunsten von UNICEF einspielen.
Mangel an Selbstgerechtigkeit
Sehr interessant in dem Buch sind auch die Passagen, in denen es darum geht, wie Heide Simonis Politik betrieben hat oder wie sie überhaupt in das Amt der Ministerpräsidentin gekommen ist.
Das chinesische Sprichwort "Glück ist die Verbindung von guter Vorbereitung und günstiger Gelegenheit" trifft bei ihr ganz gewiss zu. Als sie 1993 Björn Engholm mitten in einer plötzlich
ausgebrochenen großen Krise der norddeutschen SPD nachfolgte, sehr anders im Stil, auch völlig anders in der Art und Weise Politik zu betreiben, setzte sie sich gegen Norbert Gansel durch, den
langjährigen Kieler Bundestagsabgeordneten, der sich für besser geeignet hielt, aber dem es eben nicht gelang, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein davon zu
überzeugen, dass er tatsächlich die bessere Wahl wäre.
Heide Simonis setzte sich auch durch, weil ihr die Form von Selbstgerechtigkeit fehlte, die jene auszeichnete, die versuchten, sich im Kampf gegen sie durchzusetzen. Allerdings wurde Heide
Simonis in keinem ihrer Ämter mit offenen Armen empfangen, sondern sie musste sich immer Respekt erwerben und behaupten und sie tat das durchaus konsequent.
Herausragende Leistungen im "Armenhaus der Republik"
Gar nicht einverstanden bin ich mit der Feststellung der Autorin, die politische Bilanz der Regierungsjahre von Heide Simonis seien relativ kläglich ausgefallen, was die Autorin mit Blick
auf den Landeshaushalt und die Verschuldungslage Schleswig-Holsteins behauptet.
Wenn man weiß, dass die SPD 1988 nach 38 CDU-Regierungsjahren ein Land übernommen hat, das damals schon völlig verschuldet war, aber buchstäblich in jeder Disziplin Schlusslicht in
Deutschland war - ob bei der Kindergartenversorgung, der Elektrifizierung von Bahnstrecken, der Bildungs- und Infrastruktur oder der Mitbestimmung und Gleichstellung, kann man die Leistung der
Sozialdemokraten nicht hoch genug einschätzen.
Die Regierungen Engholm und Simonis modernisierten das Land umfassend, investierten in die Zukunft, sorgten in vielerlei Hinsicht für modernes Regieren und waren eher Vorbild für andere und
führten durchaus sehr erfolgreiche Regierungen unter schwierigen Bedingungen. Die materielle Ausstattung des Landes entsprach nie dem, was andere Länder mit großer Industrie hatten.
Schleswig-Holstein war nach dem Weltkrieg das Armenhaus der Republik mit vielen Flüchtlingen und bis zur Maueröffnung auch eher in schwieriger Randlage.
Kompetente Unterstützer sind entscheidend
Manches, was über den Führungsstil von Heide Simonis gesagt wird, lässt erahnen, dass die Autorin mit vielen Begleitern von Heide Simonis nicht hat sprechen können. Natürlich braucht jeder,
der ein solches Amt hat, auch Vertraute, die ich nicht unbedingt als "Küchenkabinette" bezeichnen würde. Aber gerade in einer politischen Umgebung, die mit einer Sozialdemokratin nicht mit
Samthandschuhen umgeht, ist es erforderlich, politische Arbeit auch so auszugestalten, dass man sich auf kompetente Menschen stützen kann, auf die man sich verlassen kann, die qualifiziert sind,
einen eigenen Kopf haben, auch widersprechen, aber dieses eben mit Loyalität und Wohlwollen.
Aus der Tatsache, dass in der Regierungszeit von Heide Simonis 16 Minister und Staatssekretäre ausgeschieden sind, zu schließen, der Führungsstil von Heide Simonis sei so problematisch
gewesen, dass gute Leute am Kabinettstisch es nicht hätten aushalten können, vermag ich aus eigener Erfahrung wirklich nicht zu folgen. Natürlich könnte man sich an Heide Simonis immer reiben,
aber das Urteil von Peer Steinbrück, Heide Simonis stünde für ein politisches "Kleinklein auf Pepitaniveau" verrät mehr über den, der solche Sätze formuliert, als über die so Charakterisierte.
"Königinnenmord" ohne politische Motive
Heide Simonis, die "angelernte Traditionslinke mit Sachkompetenz", hat sich als Minister¬präsidentin nicht wie eine Diplomatin verhalten, sondern sich auch klar und deutlich in politischen
Konflikten mit der eigenen Parteispitze in Berlin oder gegenüber anderen geäußert, was ihr nicht immer zum Karrierevorteil gereicht hat. Ob Direktheit und Authentizität am Ende wirklich aus der
Sicht der Bürgerinnen und Bürger als Nachteil wahrgenommen wird, das wage ich zu bezweifeln, obwohl gelegentlich diejenigen in der Politik es leichter haben, die geschmeidig und flexibel agieren
und eben nicht ihre Meinung klar äußern.
Ganz besonders schwierig ist natürlich auch die Betrachtung der Nicht-Wahl von Heide Simonis in den vier Wahlgängen vom 17. März 2005. Die Beschreibung des politischen Endes von Heide
Simonis mit all den bitteren Folgen für die Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein fällt auch sechs Jahre nach diesem Ereignis schwer - erst recht, wenn man im unmittelbaren Umfeld politisch
gearbeitet hat. Die Tatsache, dass die Ein-Stimmen-Mehrheit aus SPD, Grünen und SSW in der damals als neue Konstellation versuchten politischen Farbenlehre schief gegangen ist, darauf
zurückzuführen, dass ein Drittel der SPD-Fraktion eine große Koalition bevorzugt hätte, halte ich für sachlich falsch. Auch wenn man nicht weiß, wer am Ende Heide Simonis die Stimme verweigert
hat, glaube ich nach wie vor nicht, dass die Ursachen in politischen Motiven zu suchen sind.
Es spricht doch eher einiges dafür, dass es sich um die sehr persönlichen Motive einer Einzelperson gehandelt hat, die damit ihrer Partei und dem Land schweren Schaden zugefügt hat.
Viel für ihr Land geleistet
Insgesamt ist auch das Verhältnis zwischen Ministerpräsidentin, Partei und Frak¬tion, bei aller Richtigkeit der Beschreibung politischer Linien in der Fraktion und sicherlich auch richtig
beobachteter Einzelheiten deutlich besser gewesen, als das vielleicht in anderen Ländern zwischen Regierungschefs, Fraktionen und Landesparteien der Fall ist.
Munimus' Buch wird Heide Simonis als Person gerecht und bringt dem Leser diese Ministerpräsidentin und den Menschen Heide Simonis näher. In Verbindung mit den Büchern, die sie selbst
geschrieben hat, lernt man die erste deutsche Ministerpräsidentin als eine Frau kennen, die viel für ihr Land geleistet hat, deren Ver¬dienste sicherlich in der Rückschau noch mehr Anerkennung
finden werden und die bei allen Eigenheiten und Schwächen, die jedem Menschen zu eigen sind, für all diejenigen ein Vorbild sein kann, die Politik mit Herz und Verstand und klarer
sozialdemokratischer Ausrichtung und in dem Sinne betreiben wollen, dass sie das Leben für die Menschen verbessern. Das Lesen lohnt.
Bettina Munimus: Heide Simonis. Aufstieg und Fall der ersten Ministerpräsidentin Deutschlands, Ibidem-Verlag 2010, ISBN 3838201701, 24,90 Euro
Der Autor Ralf Stegner ist Vorsitzender der SPD Schleswig-Holstein und war an zwei Landesregierungen unter Heide Simonis erst als Staatsekretär und später als Finanzminister beteiligt.