Die Leichen danach
Die neueste Regiearbeit des französischen Superstars macht nicht viel Federlesen, um den Zuschauer in einen Strudel aus jenen Trieben taumeln zu lassen, die schon immer die Fantasie beflügelten: Sex und Gewalt. Lustvolles Stöhnen, schweißnasse Körper und ein zerwühltes Bett in einem sinnlich blauen Hotelzimmer bilden den Rahmen, um uns in der Eingangsszene mit Julien und Esther, den Hauptpersonen dieser Romanadaption von Georges Simenon, bekannt zu machen. Noch während Esthers Finger an ihrem Geliebten herumnesteln, ertönen bohrende Fragen zu dem, was gerade geschehen ist, aus dem Off. Einen brutalen Schnitt später sehen wir Julien vor dem Untersuchungsrichter.
Was ist hier eigentlich los? Diese Frage steht Julien bis zum Schluss ins Gesicht geschrieben. Immer wieder muss er sich zu Details einer Tragödie äußern, die ihm zumindest auf der Kopfebene unbegreiflich bleibt: Wie konnte seine Affäre mit der schönen Kleinstadt-Apothekerin dazu führen, dass zwei Menschen sterben und zwei andere auf der Anklagebank landen? All die Rückblenden vom Verhör zu jenen heißblütigen Tagen und der Zeit danach, als der verheiratete Familienvater versuchte, sich von Esther, die mehr wollte als ab und zu ein heimliches Tête-à-Tête, zu lösen, bringen immer Einzelheiten ans Licht. Dennoch hakt die Aufklärung kräftig. Fast beiläufig entsteht dabei ein vielsagendes Sittengemälde vom scheinbar beschaulichen Leben in der Provinz.
Ästhetische Wucht
Perfekt durchkomponierte, geradezu strenge Bilder, die man sich gerne an die Wand hängen würde und ein satter Ton mit schluchzenden Geigen und donnerndem Klavier: Amalric setzt ganz auf die klassischen Mittel ästhetischer Wucht, um das Publikum zu überwältigen. Um jedem, der es noch nicht verstanden hat, klarzumachen, dass das verbotene Glück, dessen wir häppchenweise gewahr werden, unter keinem guten Stern steht. Zum Beispiel beim Auftakt der verhängnisvollen Affäre, der erste Kuss beim Wiedersehen nach vielen Jahren. Esthers Locken wehen im Wind und die warmen Farben des Herbstlaubes entfachen ihre ganze Pracht. Und doch umgibt die Idylle ein düsterer Hauch.
All das würde jedoch verpuffen, wenn die Erzählweise dieses Films nicht auch andere Facetten hätte. Zum Beispiel die Intimität, mit der uns die Liebenden im Verborgenen, aber auch Juliens Alltag mit Frau und Tochter entgegentreten. Esthers Fordern und Juliens Unsicherheit, ab einem gewissen Punkt sogar seine panische Angst, sind fast schon physisch erlebbar. Jede Beiläufigkeit wirkt bedeutsam. Hinzu kommen die Kälte und Routine in Juliens Eheleben, die sich in den blassen Grautönen des Eigenheims widerspiegeln. Was umso bemerkenswerter ist, weil das mit 72 Minuten äußerst kompakte Krimi-Drama nicht jede psychologische Untiefe einer Geschichte auserzählen kann, die sich letztlich darum dreht, alles aufs Spiel zu setzen, um sich einer Leidenschaft hinzugeben,die zunehmend außer Kontrolle gerät.
Vor allem Hauptdarsteller Mathieu Amalric sieht man gebannt dabei zu, wie er versucht, das Vergangene zu rekonstruieren und ihm dabei mitunter sprichwörtlich die Worte fehlen. „Wie anders das Leben ist, wenn man es lebt und wenn man es im Nachhinein zerpflückt“, sagt er. Ist der Landmaschinenhändler wirklich so unschuldig, wie er scheint? Welche Rolle spielt Esther, die ihm Jahre zuvor als unnahbare „Statue“ erschienen war? Zweifellos gemahnt die hochgewachsene Brünette an diverse geheimnisumwitterten Frauen des Film Noir, selbst wenn die Figur diesem Anspruch nicht durchgehend gerecht wird.
Begrenzte Sicht
Auch das Bildformat trägt dazu bei, dass einen dieser Film sofort in seinen Bann zieht und nicht mehr loslässt. Gedreht wurde nicht im üblichen Breitwandformat, sondern im 4:3-Format. Der begrenzte, meist ganz dicht auf den Menschen ruhende Kamerablick führt dazu, dass Esthers und Juliens Dilemma, in ihren Gefühlen, aber auch den äußeren Umständen gefangen und isoliert zu sein, visuell verstärkt wird. Und dass man, sozusagen mit begrenzter Übersicht, aber permanent auf dem Sprung zwischen den Zeitebenen, ebenso ratlos wie Julien durch das Geschehen stolpert, das die Ermittler akribisch und mitunter pedantisch zu entwirren versuchen.
Wo Amalric Seh-Gewohnheiten des Mainstreams und Klischees bedient, lehnt er sich an anderen Stellen dagegen auf. Momente trägen Schwelgens treffen auf rasante Schnitte. Auch aus diesen Kontrasten zieht diese unterm Strich eben doch konventionelle Krimi-Adaption, die in Cannes ihre Premiere feierte, ihren unglaublichen Sog, mag das Ende auch ernüchtern.
Info: Das blaue Zimmer (Frankreich 2013), ein Film von Mathieu Amalric, nach dem Roman von Georges Simenon, mit Mathieu Amalric, Léa Drucker, Stéphanie Cléau u.a., 72 Minuten. Ab sofort im Kino