Es wird viel gesprochen von der "neuen Unterschicht, mit der aber eigentlich niemand etwas zu tun haben will", betonte Nadja Klinger in der Dankesrede. Gemeinsam mit Jens König hat sie
Menschen besucht, die von Armut betroffen sind: Die Mutter, die höchstens 88 Cent für ein Frühstück ausgeben kann, die vierköpfige Familie, die von Arbeitslosengeld II lebt, den Jungen, der sich
wünscht, einmal mit seiner Mutter Pizza essen zu gehen...
Als arm bezeichnete sich selbst allerdings keiner der Betroffenen, erklärte Jens König. So war es schwer sie zu finden, obwohl zehn Millionen Menschen in Deutschland von Armut betroffen oder
bedroht sind. In einem reichen Staat, in dem - hier sind sich Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) und Klaus Hohlfeld, der Sprecher der Jury einig - ein Systemfehler vorliege. Das
Buch beleuchte die Kehrseite unserer Leistungsgesellschaft, und zeige, "wie löchrig unser angeblich soziales Netz sein kann", sagte Klaus Hohlfeld. Damit sind Klinger und König mit ihrem Buch
mitten in einer wichtigen Debatte: Wie geht unsere reiche Gesellschaft mit Armut um?
Was passiert mit Menschen, die keine Chancen und keine Möglichkeiten haben? "Armut", unterstrich Jens König, "nennen wir die Grenze zwischen uns und ihnen." Die Autoren verstehen ihr Buch als
"Exkursion an die Grenze, die es zu überwinden gilt."
Von den politischen Entscheidungsträgern fordern sie eine intelligente Armutspolitik. Das Problem der Armut ist kompliziert und umfassend. Die Lösung wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Aber
es muss endlich begonnen werden, daran zu arbeiten: "In Deutschland hat die Ungleichheit heute ein Maß erreicht, das die Grenze zur Unsittlichkeit überschreitet", heißt es in dem Buch.
Matthias Platzeck, sieht die Armutsbekämpfung als vordringliche Aufgabe der Politik. Die Transferleistungen müssen so investiert werden, dass sie den Menschen Lebens- und Aufstiegschancen
bieten, erklärte der Ministerpräsident. "Denn", so Platzeck, "eine Gesellschaft, die ihre Durchlässigkeit verliert, verliert ihre Zukunftsperspektive."
Die Einzelschicksale, die das Buch präsentiert, eröffnen den Blick auf die zunehmende Armut und Chancenlosigkeit in Deutschland. "Einmal Hartz IV, immer Hartz IV", zitierte Matthias Platzeck.
Unser bestehender Sozialstaat trage zur Hoffnungslosigkeit bei. Es müsse rechtzeitig und zielgenau investiert werden, und deshalb entspreche der vorsorgende Sozialstaat den Anforderungen des 21.
Jahrhunderts.
Auch Nadja Klinger und Jens König sind sicher, dass sich intelligente Armutspolitik nicht am alten Sozialstaat orientieren kann. War der doch zugeschnitten auf national begrenzte
Industriestaaten und eine Gesellschaft, in der Männer für das Familieneinkommen verantwortlich waren. Die Autoren wollen aber mehr als den "vorsorgenden Sozialstaat". Ein "vernünftiges Patchwork
vieler einzelner Maßnahmen" wird erforderlich sein. Denn bisher habe keine Partei "den Armen und Ausgegrenzten irgendetwas mitzuteilen".
Wer keine Möglichkeiten hat, kann sich nicht selbst helfen. "Bitte, liebe Gutmenschen, verlangt von den Arbeitslosen nicht, auf die Straße zu gehen, lasst sie in Ruhe. Sie haben andere
Sorgen", wiederholte Nadja Klinger die Worte eines Sozialarbeiters, der bei einer ihrer Lesungen anwesend war. Jemand, der täglich mit den Menschen zu tun hat, die unsere Gesellschaft abgehängt
hat.
Birgit Güll
Nadja Klinger/ Jens König: "Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland." Rowohlt Berlin, 2006, 224 Seiten, 14,90 Euro, ISBN-10: 3871345520
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