„Die Getriebenen“: Dokudrama über Merkels Wendungen in der Flüchtlingspolitik
ARD/rbb/Volker Roloff
Bei dieser Rückschau, die in der ARD-Mediathek abrufbar ist und am 15. April in der ARD ausgestrahlt wird, steht die Bundeskanzlerin im Fokus. Viele erinnern sich an eine Szene bei einem Bürgerdialog in Rostock. Ein Mädchen aus dem Libanon berichtet von seinen Zukunftsträumen und der Angst, abgeschoben zu werden. Angela Merkel antwortet mit einigen sachlichen Hinweisen zu den Nöten und Zwängen der Flüchtlingspolitik.
Merkel: „Wir schaffen das“
Nach dem Motto: Nicht jeder, der nach Deutschland kommen oder dort bleiben möchte, darf das auch. Das Mädchen bricht in Tränen aus. Die CDU-Chefin versucht, das Mädchen zu trösten. Wer in die Augen des Kindes blickt, hat nicht das Gefühl, dass Merkel damit Erfolg hat.
Damals, als Geflüchtete in ungeahnten Zahlen auf dem Weg Richtung Europa waren, brachte diese bis heute im Internet abrufbare Szene Merkel viel Kritik ein. Der Vorwurf: Herz- und Instinktlosigkeit. Gut zwei Monate später herrschte ein völlig anderes Bild. „Wir schaffen das“, kündigte die Kanzlerin an. Der Entschluss, hunderttausende Menschen einreisen zu lassen, wurde von vielen als humanitäre Geste gewertet. Jene Zeit war aber auch eine Zäsur. Seitdem wird in der Öffentlichkeit hitziger denn je über Migrationspolitik diskutiert. Und seitdem geht ein tiefer Riss durch die CDU.
Folgenreicher Entschluss
Viele fragten sich schon damals: Was ging in Merkel vor? Mit dieser Frage befasst sich der Fernsehfilm „Die Getriebenen“. Detailgetreu werden 63 Tage im jenem Sommer 2015 rekonstruiert, bevor Merkel ihre vor allem in der eigenen Partei umstrittene Schlüsselentscheidung in der Flüchtlingspolitik fällt. Es geht dabei aber nicht nur darum, wie ein folgenreicher Entschluss unter dem Druck einer sich zuspitzenden Situation reift. Vielmehr wird deutlich, wie lange es dauert, bis sich die von Imogen Kogge verkörperte Kanzlerin entschließt, sich überhaupt mit dem Thema zu befassen und nicht alles ihrem lavierenden Innenminister Thomas de Maizière zu überlassen. Nicht nur Merkel ist eine Getriebene.
Das Gros der gezeigten öffentlichen Auftritte dürften viele aus dem Fernsehen kennen. Hierfür kombinierte Regisseur Stephan Wagner Spielszenen mit Originalmaterial, so auch bei jener Szene in Rostock. Wesentlich interessanter sind allerdings die Situationen auf Fluren, im Dienstwagen oder auch dem heimischen Sofa. Hier finden sowohl Drehbuchautor Florian Oeller, der sich im Wesentlichen auf Robin Alexanders Sachbuch „Die Getriebenen“ stützt, als auch die Hauptdarstellerin genügend Raum, um Merkel eine eigene Interpretation angedeihen zu lassen.
Politiker*innen als Getriebene
Und nicht nur das: Auch in diesen Momenten, die normalerweise keine Kamera einfängt, wird deutlich, dass aus Sicht der Protagonistin zahllose weitere Themen auf Lösungen warten. Seien es nur das vor einem weiteren Staatsbankrott stehende Griechenland oder die andauernden Sticheleien des ebenfalls unter Druck stehenden CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer. Und auch bei SPD-Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der seine eigene Agenda fährt, ist aus Merkels Sicht Vorsicht geboten. Angesichts all der Probleme und Termine, die in dichtem Takt auf Merkel und die Zuschauer*innen einprasseln, könnte man meinen: Sind nicht alle Spitzenpolitiker*innen zwangsläufig Getriebene?
Diese komplexe Gemengelage wird, gerade auch wegen des Nebeneinanders der öffentlichen und privaten Figur Merkel, temporeich und spannend erzählt. Neben der Kanzlerin findet auch Seehofer als ihr größter und unberechenbarster Kontrahent breiten Raum. Die Hauptdarsteller*innen Imogen Kogge und Josef Bierbichler meistern die Herausforderung, öffentlich weithin bekannten Persönlichkeiten eine eigene Note und vor allem Tiefe zu verleihen, bravourös.
Dokudrama über aktive Politiker*innen
Viele zentrale Akteur*innen, mit denen Merkel in diesen gehetzten Tagen zu tun hat, bleiben allerdings blass oder erscheinen als Karikatur, was sich sich schwerlich mit dem dokumentarischen Anspruch des Ganzen verträgt. Hier gehen Substanz und Präzision auf Kosten des Tempos. Einige Nebenpfade hätten sich Wagner und Oeller schenken sollen. Beider Anliegen, das Getriebensein des politischen Spitzenpersonals und die Konsequenzen, die daraus erwuchsen, zu veranschaulichen, ist dennoch gelungen. Das fällt umso mehr ins Gewicht, als Dokudramen über aktive Politiker*innen hierzulande ein wenig erprobtes Format sind.
Info: „Die Getriebenen“ (Deutschland 2019), Regie: Stephan Wagner, Drehbuch (nach dem Buch „Die Getriebenen von Robin Alexander): Florian Oeller, mit Imogen Kogge, Rüdiger Vogel, Josef Bierbichler, Walter Sittler u.a., 118 Minuten.
In der ARD-Mediathek und am 15. April, um 20.15 Uhr, im ARD-Fernsehen