Gegliedert ist der Band, an dem 15 renommierte Autoren arbeiteten, in drei Blöcke. Zunächst stehen Karrieren in der Nachkriegszeit im Mittelpunkt. Im zweiten Block geht es um Konflikte mit der
Vergangenheit. So wird unter anderem beleuchtet, wie und warum die größte geplante Prozeßserie -die gegen die Angehörigen des RSHA- komplett scheiterte. Der dritte Block beleuchtet
Konstruktionen, Bilder- und Gedankenwelten von der bzw. über die Gestapo nach 1945.
"Die Mörder sind unter uns"
Im Februar 1944 erstellte das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) seinen letzten vorliegenden Iststärkenachweis. Demnach gehörten am 1. Januar 1944 31.374 Personen zur Gestapo, zur
Reichskriminalpolizei 12.792 und zum Sicherheitsdienst Reichsführer-SS (SD) 6.482, insgesamt also 50.648 Männer und Frauen. Mindestens 25.000 Angehörige der Gestapo dürften nach Auffassung des
Herausgeberduos das Ende der NS-Diktatur erlebt haben.
"Die Mörder sind unter uns" konstatierte der 1946 gedrehte gleichnamige Film von Wolfgang Staudte. Das Plakat dieses eindrucksvollen Films ziert die Titelseite des Sammelbandes. Nur wenige
führende Gestapo-Funktionäre waren ihrem Dienstherrn Heinrich Himmler freiwillig in den Tod gefolgt; so Rolf Günther, der stellvertretende Leiter des Judenreferats im RSHA, oder Theodor
Dannecker, Eichmanns Deportationsspezialist. Etliche Gestapo-Funktionäre waren in die Illegalität abgetaucht und wurden nie mehr gesehen. So lebte Anton Burger aus Eichmanns Judenreferat 46 Jahre
unter falschem Namen und starb unerkannt 1991 in Essen.
Andere Gestapo-Angehörige flüchteten über die berüchtigten "Rattenlinien" nach Südamerika, Spanien oder den Nahen Osten. Ein Argentinienflüchtling war SS-Obersturmführer Kurt Christmann.
Der Gestapo-Beamte, ein Massenmörder, der Juden in Gaswagen ermorden ließ, kam 1956 wieder nach Deutschland zurück. Erst 1980 wurde Christmann zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Walther
Rauff, Konstrukteur der Gaswagen, fand dagegen bis zu seinem Tod im Jahr 1984 in Chile keinen irdischen Richter.
Im Zuge der Ost-West-Spannungen wurden ehemalige Gestapo-Angehörige für die westlichen Geheimdienste interessant. Bekanntestes Beispiel ist Klaus Barbie, der "Schlächter von Lyon", der für
den US-amerikanischen Geheimdienst CIC arbeitete. Auch die dem CIA unterstehende Organisation Gehlen, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst (BND) entstand, griff auf RSHA-Personal zurück.
Walter Kurreck, 1943 bis 1945 Leiter des Sonderreferats "Zeppelin" im Amt VI, das Spionage und Sabotage hinter den sowjetischen Linien organisierte, brachte seine Verbindungen 1949 dort ein. Ende
der 40er Jahre war rund jeder Zehnte der 4.000 Gehlen-Mitarbeiter durch seine Vergangenheit belastet.
"Siegerjustiz"
Anfang der 50er Jahre verschob sich die öffentliche Meinung in Deutschland immer mehr Richtung Schlußstrich und Generalamnestie. 1946 hatten noch 78 Prozent der Bevölkerung die Nürnberger
Urteile als gerecht empfunden und 80 Prozent der Befragten das Verfahren für fair gehalten. 1951 aber äußerten sich nur noch 10 Prozent Zustimmung. "Siegerjustiz" lautete nunmehr der Vorwurf an
die Alliierten. Die 50er Jahre waren, so ein Fazit des Sammelbandes, "die große Zeit der zweiten Chance" für ehemalige Gestapo-Angehörige. Wer sich zumindest öffentlich zur demokratischen
Republik bekannte und auf neonationalsozialistische Betätigung verzichtete, fand sein Auskommen und hatte kaum etwas zu befürchten. So brachte es der ehemalige Kommandeur der Sicherheitspolizei
und des Sicherheitsdienstes von Toulouse, Rudolf Bilfinger, Teilnehmer der berüchtigten Wannseekonferenz, zum Oberverwaltungsgerichtsrat am Landesverwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg.
Der Band, streckenweise spannend wie ein Krimi, verfügt über ein Personen- und Ortsregister.
Anton Maegerle
Mallmann, Klaus-Michael / Angrick, Andrej (Hrsg.): Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2009, 368 Seiten. 49,90 EUR Hier bestellen...