Kultur

Die Genese der Aufrichtigkeit

von Joris Steg · 7. November 2009
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Die Studie des Soziologen und Rektors der Berliner Schauspielschule "Ernst Busch" ist kein Werte- oder Tugendbuch. Aufrichtigkeit avanciert für Wolfgang Engler vielmehr zum sozialmoralischen Erbe im Kapitalismus, mithin einer unverzichtbaren Dimension des sozialen Zusammenhalts. Lediglich im ersten Teil seiner Studie - "Aufrichtigkeit als Gebot der Gegenwart" - bezieht sich Engler stellenweise auf die aktuelle Krise auf den internationalen Finanzmärkten.

In der öffentlichen Debatte werden hemmungslose Gier und das Bereicherungsstreben gewissenloser Banker gelegentlich als die wesentliche Ursache der schwersten Krise seit der "Great Depression" identifiziert. Ist also die Finanzkrise bloß eine Tugendkrise, die Folge individuellen Fehlverhaltens? Engler lässt nicht nur keinen Zweifel daran, dass Gier im Kapitalismus systemkonform ist, dass sich Gewinnmaximierung aus der Kapitallogik ableitet und dass moralische Appelle oder Verurteilungen der rücksichtslosen Gewinnsucht naiv und hilflos bleiben. Er erinnert auch daran, dass erst durch politische Entscheidungen, besonders die Liberalisierung der nationalen und internationalen Finanzmärkte, dem "schrankenlosen Bereicherungstrieb" zum Durchbruch verholfen wurde. Zu Recht plädiert er daher für ein neues Regelwerk für die Finanzmärkte, für das Verbot von hochriskanten Produkten und für wirksame Kontrollen. Da ein neues Verhalten der Finanzmarktakteure nicht aus Einsicht resultiere, müsse es vom Staat verordnet werden.

Aufrichtigkeit als Schlüsselbegriff


Engler, der als soziologische Stimme des Ostens gilt, sieht den etymologischen Ursprung des Begriffs der Aufrichtigkeit in der Aufrichtigkeit vor Gott. Davon ausgehend beschreibt der Autor detailliert und gedankenreich die Entwicklung und die Bedeutung des Begriffs der Aufrichtigkeit seit der frühen Neuzeit.

Besonders lesenswert sind die Passagen zur Aufrichtigkeit als Anforderung an Sprache und Kommunikation in der Phase vor der Französischen Revolution von 1789. Engler begreift die Aufrichtigkeit als Schlüsselbegriff zum Verständnis der bürgerlichen Kultur, als bürgerliche Zentraltugend. Zunächst ging es darum, eine Gegenkultur zur höfischen, durch Intrige und Verschleierung gekennzeichneten Konversation zu schaffen. Aufrichtige Kommunikation sollte, wie Engler im historischen Rekurs nachweist, eine "nicht-intentionale, nicht-manipulative und nicht-persuasive" Kommunikation sein. Aufrichtigkeit wurde zum kommunikativen Code des sich emanzipierenden Bürgertums, zur Grundlage einer eigenen Art des Sprechens und Handelns, der sozialen Interaktion und eines spezifischen sozialen Zusammenhalts, mit dem sich der "dritte Stand" vom Adel absetzte. Es konstituierte sich bürgerliche Öffentlichkeit.

Kultur der Authentizität

In der nachrevolutionären Zeit, mit der politischen Emanzipation des Bürgertums und der beginnenden Industrialisierung, wird in der Analyse Englers die Kultur der Aufrichtigkeit abgelöst durch die ich-bezogene Kultur der Authentizität, die schließlich in die "Kultivierung des Selbst" mündet. Engler behält dabei den materiellen Lebensprozess der Menschen im Blick. Er weiß, dass für die Lohnabhängigen in den Anfängen der kapitalistischen Produktion ein selbstbestimmtes Leben unerreichbar blieb. Erst mit der Entwicklung der Lohnarbeit zu einer respektablen Existenzform, erst nach Regulierung und Begrenzung des Arbeitstages, mit steigenden Löhnen, mit gesetzlichen Regelungen zum Arbeitsschutz und mit sozialstaatlichen Sicherungen bei Krankheit und im Alter eröffnen sich auch für die Lohnabhängigen Möglichkeiten zur Ausbildung einer individuellen Persönlichkeit in der und jenseits der Arbeit.

Engler unterstreicht, dass für ein selbstbestimmtes Leben Arbeit von zentraler Bedeutung ist. Seine Skepsis gegenüber dem emanzipativen Gehalt der Lohnarbeit ist aus früheren Arbeiten bekannt. Da für Engler Selbstbestimmung in der Arbeit und Selbstbestimmung durch die Arbeit lediglich für wenige realistisch ist, plädiert er weiterhin für eine "Entkopplung von Einkommen und Erwerbsarbeit", ohne jedoch auf Konzepte wie Bürgergeld oder das von ihm ansonsten verfochtene bedingungslose Grundeinkommen einzugehen.

Sozialmoralische Erneuerung


Überhaupt deutet Engler manches nur an. Immer wieder finden sich Querverweise zur aktuellen Situation etwa in Ostdeutschland oder im vereinten Deutschland. Im letzten Kapitel befasst sich Engler mit dem abstrakten Kapitalismusund seinen Fehlentwicklungen für die Subjekte und die Gesellschaft. Das Fazit Englers über die einschneidenden Wandlungen der bürgerlichen Lebenskultur lautet: "Nur wenn der Kapitalismus an sein sozialmoralisches Erbe anknüpft, bleibt er politisch mehrheitsfähig". Allerdings fordert auch Engler keine Renaissance der vorrevolutionären Kultur der Aufrichtigkeit.

Wer eine leicht verdauliche Abendlektüre erhofft oder eine aktuelle Analyse und Kritik zur weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise lesen möchte, der sollte sich vom PR-Stil des Buchtitels besser nicht verführen lassen. Wer allerdings an einer historisch-kulturkritischen Studie mit facettenreichen Darstellungen über Aufrichtigkeit und Lüge interessiert ist, dem sei dieses Buch durchaus sehr empfohlen.

Joris Steg

Wolfgang Engler. Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus, Aufbau Verlag 2009, 214 Seiten, 19,95 Euro. ISBN: 978-3-351-02709-4

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