Die 50er Jahre gelten allgemein als die Geburtsstunde Europas, da im Verlaufe der Dekade die drei Kerngemeinschaften des politischen Europas - die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
(EGKS/Montanunion), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) - geschaffen wurden. Zum Enstehungsprozess dieser drei Kerngemeinschaften existiert
mittlerweile eine Fülle von Literatur. Hörbers Buch setzt sich auf zweierlei Art und Weise von bisherigen Studien ab: Zunächst geschieht dies durch die Auswahl der im Buch behandelten Länder. Neben
Deutschland und Frankreich bezieht Hörber von Beginn an Großbritannien als quasi "gleichwertigen" Partner in seine Analysen ein. Hörber tut dies mit dem Argument, dass Großbritannien in den 50er
Jahren einen entscheidenden Wandlungsprozess bezüglich Europas durchlaufen hätte, ohne den der spätere Beitritt des Landes zu den europäischen Gemeinschaften überhaupt nicht möglich gewesen wäre.
Die andere entscheidende Neuartigkeit des Buches liegt in der Quellenauswahl begründet: Hörber konzentriert sich fast ausschließlich auf die Analyse parlamentarischer Debatten zum Thema Europa. Die
Gründe für ein solches Vorgehen liegen laut Hörber auf der Hand: in weitaus höherem Maß als schriftliche Dokumente von Regierungen oder Ministerialbürokratien zeugten die Parlamentsdebatten von den
Gewissens- und Richtungskämpfen der drei Länder auf dem Weg zu ihrer jeweiligen nationalen Position zu Europa (S. 18). Eine genauere Untersuchung des offenen Schlagabtausches zwischen Regierungs-
und Oppositionsparteien zum Thema Europa gebe so den Blick frei auf eine neue Perspektive. Im Gegensatz zu Zeitschriftenquellen fest seien diese im unmittelbaren politischen Geschehen verankert und
folgten nicht einseitig der offiziellen Regierungslinie (S. 19).
Steiniger Weg zur Integration
Methodisch konzentriert sich Hörber auf vier Leitthemen (Indikatoren), um die entscheidenden Aspekte der parlamentarischen Europadebatten der 50er Jahre herauszuarbeiten: Kriegserfahrung,
nationale Sicherheit, militärische Sicherheit und wirtschafltiche Sicherheit. Unter diesen Gesichtspunkten werden nacheinander Frankreich, Deutschland und Großbritannien abgehandelt. Detailreich
und lebhaft zeichnet Hörber dabei den steinigen Weg zur europäischen Integration im Spannungsfeld spezifischer nationaler Interessen und Angelegenheiten nach (z.B. Übergang von Vierter zu Fünfter
Republik in Frankreich, Wiedervereinigungsfrage in Deutschland, Einflss außenpolitischer Krisen wie Koreakrieg und Suezkrise in Großbritannien). Angesichts der großen Bandbreite des damaligen
Parteienspektrums zeigt Hörber, mit welchen Argumenten vor allem Gruppierungen an den Rändern dieses Spektrums, wie beispielsweise Kommunisten in Deutschland und Frankreich, erste Schritte zur
europäischen Integration vehement zu verhindern versuchten. Bei anderen Gruppierungen, wie der SPD in Deutschland oder den Gaullisten in Frankreich, steht die Abkehr von der anfänglicher
Europaablehnung im Mittelpunkt der Untersuchungen.
Ein entscheidender Befund der Studie ist, dass in Deutschland und Frankreich vornehmlich die Regierungsparteien europafreundliche Positionen vorantrieben, während in Großbritannien
ausgerechnet die Opposition sich pro-europäischer Ideen annahm. Hörber wertet diese oppositionelle Europafreundlichkeit als taktischen Schachzug und sieht sie als ein weiteres Element in der eher
von Realismus als von Idealismus geprägten britischen Europadebatte - stets vor dem Hintergrund, dass Europa, im Vergleich zu anderen außenpolitischen Themen (Commonwealth, koloniale
Verpflichtungen, transatlantsiche Beziehungen) im Großbritannien der 50er Jahre ein weniger prominentes Thema als in Frankreich und Deutschland war.
Eliteprojekt mit Demokratiedefizit
Zusammenfassend kommt Hörber zu dem Schluss, dass man vor 1958 keinesfalls von einem sogenannten "permissiven Konsens" zu Europa sprechen kann, mit dessen Hilfe die politischen Eliten
aufgrund mangelnder Debatten und öffentlichen Desinteresses die europäische Integration leicht und unkontrovers hätten vorantreiben können. Im Gegenteil, dem permissiven Konsens nach 1958 sei, so
Hörber, ein offener und kontroverser parlamentarischer Meinungsbildungsprozess vorausgegangen, der sich in den hitzigen Europadebatten der damaligen Zeit manifestiere. Dieser
Meinungsbildungsprozess habe somit in gewisser Weise den späteren permissiven Konsens nach 1958 erst demokratisch legitimiert. Man ist nach der Lektüre des Buches geneigt, Hörbers These
zuzustimmen. Am eigentlichen Problem der europäischen Integration, nach 1958 oftmals als ein Elitenprojekt mit ekklatanten Demokratiedefiziten angesehen zu werden, ändert dies wenig. Denn wer
wollte heutzutage eine öffentliche Diskussion zur mangelnden demokratischen Legitimation Europas mit Verweisauf die bereits in den 50erJahren erfolgten Parlamentsdebatten und -entschlüsse als
unnötig oder illegitim abtun? Nichtsdestoweniger ist die These und die durch diese Studie erstmalig erfolgte umfassende Analyse der damaligen Parlamentsdebatten auch über den reinen historischen
Erkenntnissgewinn lohnend - führt sie uns doch klar vor Augen, dass europäische Integration stets mehr als nur eine Reihe von nicht-öffentlichen Regierungs- und Ministerialverhandlungen sein kann
und muss.
Ulrich Adam
Thomas Hörber: The Foundations of Europe, VS. Verlag, Wiesbaden, 2006, 356 Seiten, 39,90 Euro, ISBN 3-531-15133-9
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