Kultur

Die ganz normale Revolution

von ohne Autor · 10. September 2012

Antikommunisten verherrlichen die Herrschaft der Kommunisten. Junge sind konservativer als Alte: Diese Schizophrenie gibt es wohl nur in Russland. Wohin steuert das Riesenreich, das unter Putins dritter Präsidentschaft an die Stagnation der späten Breschnew-Jahre erinnert? Der russische Publizist Boris Kagarlitzki erklärt, was der „gelenkten Demokratie“ bald an die Substanz gehen könnte.

Boris Kagarlitzki ist es gewohnt, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Schon zu Sowjetzeiten kritisierte der Soziologe die Missstände in seinem Land. Heute zählt der Direktor des Instituts für Globalisierung und Soziale Bewegungen (IGSO) in Moskau zu den prominentesten, im linken politischen Spektrum angesiedelten Gegnern des Systems Putin. Doch auch mit der aus seiner Sicht ideenlosen Opposition geht der 53-Jährige in seinem Buch scharf ins Gericht.

„Back In The USSR” versteht sich als ein Grundlagentext. Kurz und knapp, aber alles andere als oberflächlich erklärt der 53-Jährige, wie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Russland ticken und vor welchen Herausforderungen dieses Geflecht steht, dessen ungerecht verteilter Wohlstand auf den tönernen Füßen launischer Rohstoffpreise ruht und das obendrein mit den Folgen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise kämpft. Pointiert, aber ohne Schaum vor dem Mund betrachtet er jene Probleme, die das undurchsichtige Machtkartell aus Geheimdienstlern, Bürokraten und Oligarchen mit sich bringt.

Linientreue, aber ideologisch ausgehöhlte Parteien

Dieser Tage denken viele an gefälschte Wahlen und die Einschüchterung der politischen Gegner. Doch eigentlich geht es Kagarlitzki um die zunehmende Lähmung und einen grassierenden Realitätsverlust innerhalb der sogenannten Machtvertikalen. Dass damit vor allem eine völlig verfehlte, weil vernachlässigte Bildungs-, Sozial- und Infrastrukturpolitik einhergeht, hält er für den eigentlichen Sargnagel eines Gemeinwesens, das einige auf dem Weg in die lupenreine Diktatur sehen.

Kagarlitzki: „Änderungen in der Wirtschaft oder der Politik zuzulassen, hieße für die herrschende Finanz- und Rohstoffoligarchie, sich selbst abzuschaffen.“ Stattdessen orientieren sich die linientreuen, aber ideologisch ausgehöhlten Parteien lieber an der vermeintlichen Stabilität und dem ruhmreichen Erbe einstiger Größe. Gleichzeitig werden deren rote Anstriche ignoriert und die Kommunistische Partei der Gegenwart verteufelt – man konkurriert nun einmal um die Macht.

Die Alten stehen auf

Außerhalb der Blase der Ultrareichen wächst die Unzufriedenheit mit dem Kreml, wie die zahlreichen Proteste rund um die Rochade an der Staatsspitze zeigen. Bis vor kurzem hätten, so Kagarlitzki, die Rentner die Protestzüge angeführt, schließlich bekämen sie langsam zu spüren, dass es weniger zu verteilen gibt. Doch auch bei den Demos für eine Reform des korrupten Hochschulwesens seien sie, so Kagarlitzki, ganz vorne mitmarschiert. Unter den jungen Leuten, Russlands Zukunft, hätten Soziologen dagegen eine wachsende Staatsgläubigkeit und Angepasstheit attestiert – noch so eine Merkwürdigkeit in einem Land, dessen Eliten besonders rücksichtslos die eigenen Pfründe im Sinn haben.

Ob von dieser kadermäßigen Haltung des akademischen Nachwuchses nach dem Anschwellen der Proteste seit dem vergangenen Frühjahr noch flächendeckend die Rede sein kann, muss aus heutiger Sicht – das Buch wurde im Oktober 2011 abgeschlossen – allerdings bezweifelt werden.

Der Autor verzichtet bei seinen Betrachtungen auf jegliches Pathos. Das verstärkt die Wirkung seiner gleichermaßen präzisen und lakonischen Gedankenstränge. Nur ganz am Ende wird Kagarlitzki dann doch ein wenig dramatisch. Für ihn nimmt die Krise der kapitalistischen und politischen Ordnung in Russland unaufhaltsam Fahrt auf. Hatte der wachsame Kreml diese Umwälzung möglicherweise nicht auf seiner Liste schrecklicher Eventualitäten? Zerfallsprozesse, so Kagarlitzki, seien typische Begleiterscheinungen einer revolutionären Epoche. Und: „Eine revolutionäre Kraft oder eine revolutionäre Theorie kann (im Unterschied zu einem Reformprogramm) nicht im Voraus ausgearbeitet sein, sie kann sich nur im Lauf der Entwicklung einer Revolution bilden und dabei reifen.“

Krise als Normalität

Anders gesagt: Selbst wenn bislang keine schlagkräftige Oppositionsbewegung mit zündenden Konzepten auszumachen ist, sollte man die Hoffnung auf einen nachhaltigen Wandel in Russland nicht aufgeben – seien dessen Charakter und Folgen auch kaum abzusehen. Ohnehin betrachtet Kagarlitzki – mit Blick auf Europas Schuldenkrise – ein von der Wirtschaftskrise verursachtes politisches Erdbeben in Russland als einen Schritt in Richtung „Normalität“.

Kagarlitzkis kleines, aber elegantes Buch bietet mehr Durchblick als manch erschöpfende Studie. Wäre ein derartiger Erkenntnisgewinn über jenen großen und wichtigen Nachbarn doch häufiger in dieser geistreichen Gelassenheit zu genießen.

Boris Kagarlitzki: "Back In The USSR. Das neue Russland", Edition Nautilus, Hamburg, 2012, 91 Seiten, 9,90 Euro, ISBN 978-3-89401-756-9

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