Am Ende des Lebens wird die Vergangenheit stärker als je zuvor: In „Der letzte Mentsch“ brilliert Mario Adorf als ehemaliger KZ-Insasse, der bei der Suche nach seiner jüdischen Identität auf ungeahnte Hindernisse stößt.
Oft ist dieser Tage davon die Rede, dass in nicht allzu ferner Zeit keine Überlebenden des Holocaust mehr unter uns weilen werden. Wer soll fortan von ihren Erfahrungen berichten? Bei vielen ehemaligen Lagerinsassen hielt sich der Drang, in aller Öffentlichkeit Zeugnis abzulegen, gerade während der ersten Jahrzehnte nach Kriegsende in Grenzen. Sei es wegen der empfundenen Schuld gegenüber ermordeten Angehörigen, der Gaskammer entronnen zu sein. Sei es, weil ihnen, zumal in der alten Bundesrepublik, niemand zuhören wollte, wie die Autorin und Auschwitz-Überlebende Renate Lasker-Harprecht jetzt gegenüber der Wochenzeitung „Die Zeit“ erklärte. Manch einer verleugnete gar seine jüdische Identität, um den Verlust geliebter Menschen zu bewältigen und neu anzufangen. Doch lässt sich die Verleugnung der eigenen Wurzeln auf ewig durchhalten?
Vom schwierigen Weg eines jener Überlebenden zu sich selbst, erzählt „Der letzte Mentsch“ (der Titel wurde dem jiddischen Begriff für Mensch entlehnt). Auch Marcus Schwartz (Mario Adorf) schuf sich nach Hitlers Untergang eine neue Identität. Das einzige, was ihm von seinen Lieben blieb, ist die tätowierte Häftlingsnummer aus Auschwitz. Doch jetzt, kurz vor dem Ende seiner Tage als letzter Spross der Familie, kommt er ins Grübeln. Er nimmt wieder seinen ursprünglichen Namen Menahem Teitelbaum an und beschließt, sich ein Grab auf einem jüdischen Friedhof zu kaufen. Doch in der jüdischen Gemeinde nimmt ihm keiner ab, dass er Jude ist. So macht er sich von Köln auf in seine ungarische Heimat. Dort, in seiner Geburtsstadt Vac, wird ihm schon irgendjemand die nötigen Dokumente ausfertigen können, beruhigt ihn der Rabbi.
Absurd ist es überall
Doch die Unternehmung hält ungeahnte Abenteuer und Enttäuschungen bereit. Auch an der Donau sind Verwaltung und jüdische Gemeinden für absurde Hindernisse gut, die den Heimkehrer in seinem Credo bestätigen, dass das Leben überall gleich absurd sei. Eben damit rechtfertigt er auch seine Entscheidung, nach seiner Befreiung aus dem KZ in Deutschland geblieben zu sein.
Für manche Irrung und Wirrung sorgt auch jene Person, die den Trip in die Vergangenheit erst möglich macht. Vieles, was die 20-jährige Gül (Katharina Gerr), die den alten Eigenbrötler im Wagen chauffiert, ausmacht, entfaltet im Austausch mit ihrem Fahrgast eine explosive Wirkung. Etwa die Suche nach einer sinnvollen Aufgabe, ein nicht übermäßig ausgeprägtes Bewusstsein für zeitgeschichtliche Zusammenhänge oder der Hang zum Krawall. Vor allem aber ihr fragiles Selbstbewusstsein, das nicht zuletzt auf Konflikten mit ihrer türkischstämmigen Familie fußt. „Weißt Du, dass die Türken die neuen Juden Europas sind?“, fragt sie, während sie über die Autobahn donnern. „So kann man das nicht sehen. Von Euch haben sie nicht sechs Millionen umgebracht“, antwortet er in der ihm eigenen Lakonie. Und doch verbindet beide vor allem eines: der Drang, endlich einen Platz im Leben zu finden und sich seinen Wurzeln zu stellen.
Nach der Ankunft in Budapest legt dieser Prozess bei Menahem an Tiefe und Dynamik zu. Er trifft die Tochter jener Hoteliers, die seine Eltern seinerzeit an die Gestapo verrieten. Auf einer Gedenktafel auf einem Friedhof entdeckt er den Namen seiner Mutter. Dieser Moment, der das Aufbrechen alter Wunden mit dem Gefühl, seiner wahren Identität immer näher zu kommen, vereint, zählt zu den berührendsten des Films. Ohnehin überzeugt die Regiearbeit des Franzosen Pierre-Henry Salfati, gerade immer dann, wenn Adorf mit sich und seiner Figur allein ist oder sich in der Masse bewegt: Sei es, wenn er blinzelnd auf einer Sommerwiese liegend sinniert oder in einer wuseligen ungarischen Synagoge endlich sein Ziel erreicht.
Didaktische Motivation
Der Austausch mit Gül gewinnt hingegen selten wirklich an Tiefe. Zwar dienen die beiden in klassischer Roadmovie-Manier einander als Katalysator dabei, einen neuen Blick auf sich und die Welt zu gewinnen, während auch die äußere Umgebung vor allem Menahem eben dazu nötigt. Die junge Frau ist es schließlich auch, die ihn immer wieder antreibt, die Suche nach seinen Dokumenten nicht aufzugeben und sich seiner Geschichte zu stellen. Doch beschleicht einen das Gefühl, dass es Salfati dabei weniger um die Entwicklung der Protagonistin, sondern um (s)eine didaktische Motivation geht, die auch darauf gerichtet ist, ein jüngeres Publikum für dieses Thema zu begeistern.
Dennoch findet der Film insgesamt den richtigen Ton und eine unverbrauchte Bildsprache, um von einem Thema zu erzählen, das umgehend altbekannte Bilder im Kopf abruft. Salfati wahrt die Balance zwischen Emotionalität und Abgeklärtheit selbst dann, als der alte Mann in Ethel (Hannelore Elsner), die seine jüdische Herkunft bezeugen will, in mehrfacher Hinsicht einen rettenden Engel zu finden glaubt. So steht „Der letzte Mentsch“ für eine ästhetisch stimmige und insgesamt mutige Aufarbeitung der mitunter bizarren und schizophrenen Hinterlassenschaft des Völkermords.
Info: Der letzte Mentsch (D, CH, F 2014), Regie: Pierre-Henry Salfati, Drehbuch: Almut Getto und Pierre-Henry Salfati, mit Mario Adorf, Katharina Gerr, Hannelore Elsner u.a., 93 Minuten
Ab sofort im Kino!
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