Kultur

Die Erfindung des Unterschieds

von Anina Kühner · 27. September 2012

Dank einer langen Reihe populärwissenschaftlicher Bücher hat sich in den letzten Jahren die Meinung verfestigt, mentale Unterschiede zwischen Frauen und Männern seien angeboren. Dass wissenschaftliche Tests, die dies untermauern sollen, oft jeder logischen Grundlage entbehren, weist die Psychologin Cordelia Fines nun in ihrem Buch „Die Geschlechterlüge“ nach.

Wer kennt sie nicht, die griffigen Bestseller-Titel wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“? Dass sich bereits hier ein handfestes Vorurteil versteckt, liegt auf der Hand. Trotzdem sind viele versucht, auf neurowissenschaftliche Studien zu verweisen, die mentale Unterschiede zwischen Mann und Frau angeblich bestätigen. Doch welche Ergebnisse sind zu erwarten, wenn man Untersuchungen mit der Prämisse angeht, dass Mädchen die Farbe Rosa bevorzugen? 

Cordelia Fines hat sich durch unzählige Studien und Experimente gearbeitet und dabei festgestellt, dass die meisten „Beweise“ für die angeborenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf tönernen Füßen stehen. So gewinnt man beim Lesen ihres Buches eher das Gefühl, dass die Wissenschaft häufig zur Untermauerung von Vorurteilen missbraucht wird.

Der Affe und die Pfanne

So weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll, wenn man von Gender-Experimenten amerikanischer Verhaltensforscher liest: Sie ließen männliche und weibliche Meerkatzen mit „typischem“ Mädchen- oder Jungenspielzeug hantieren, um nachzuweisen, das Mädchen beispielsweise von selbst zur Pfanne greifen und Jungs zum Auto.

Dass Affen generell nicht viel mit Haushaltsgegenständen anfangen können, kam ihnen dabei scheinbar nicht in den Sinn. Zudem zeigt die Herangehensweise deutlich, welches Frauenbild die Forscher haben. Fines bilanziert: „Wer gerade noch zu den altmodischen Sexisten gehörte, steht plötzlich auf der Seite der modernen Naturwissenschaft.“

Die Mathematik und die Empathie

Die Neurowissenschaft habe bislang noch keinen Beweis dafür erbringen können, dass Frauen empathischer oder sozial kompetenter seien als Männer, erklärt Fines. Auch für die umgekehrte Variante, nämlich dass Männer grundsätzlich ein besseres mathematisches Verständnis mitbrächten, habe sich bisher keine fundierte Bestätigung gefunden.

Vielmehr ist es laut Fines das soziokulturelle Umfeld, das Unterschiede fördere. Ab ihrem ersten Lebenstag würden Kinder geschlechterspezifisch behandelt. So belegten Studien, dass Mütter von Mädchen mehr mit ihren Babys kommunizierten als die von Jungen. Auch anhand von Geburtsanzeigen ließe sich nachweisen, dass Eltern auf männlichen Nachwuchs anders als auf weiblichen reagieren: Mit Jungen werde häufig der Begriff „Stolz“ assoziiert, mit Mädchen eher „Glücksgefühl“.

Verhaltensweisen, die man für geschlechtsspezifisch hielte, würden demnach bereits unmittelbar nach der Geburt an Kinder herangetragen. So würden Erwartungshaltungen geweckt, betont die Autorin. Dies geschehe in vielen Fällen allerdings unbewusst.

Der Wert von Vorbildern

Fines beweist eindrucksvoll, dass das unmittelbare Umfeld eine entscheidende Rolle für die Leistungsfähigkeit spiele. So weist sie auf einen Test hin, bei dem Mathematikstudentinnen, die alleine in einem Hörsaal voller männlicher Kommilitonen saßen, bei einem Test wesentlich schlechter abschnitten als diejenigen, die mehr weibliche Mitstreiterinnen um sich hatten. Ähnlich verhält es sich bei anderen typischen „Männerdomänen“ wie der Informatik: Gebe es weibliche Vorbilder, steige auch die Leistung junger Frauen in diesen Disziplinen.

„Die Geschlechterlüge“ ist eine lohnende Lektüre. Streckenweise kann man sich das Lachen kaum verkneifen, wenn die Autorin mit bissigem Humor die verstaubten Vorurteile unantastbarer Wissenschaftler enttarnt. Allerdings bleibt der Leser am Ende etwas ratlos zurück: Wie soll man angesichts der tief verwurzelten Voreingenommenheit, die scheinbar in uns allen steckt, jemals zu echter Gleichberechtigung kommen? Vielleicht, indem man etwas differenzierter über das Thema diskutiert. Und indem man beweist, dass Männer doch zuhören und Frauen auch einparken können.

Cordelia Fines: Die Geschlechterlüge. Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, 374 Seiten, 21,95 Euro, ISBN 978-3608947359

Autor*in
Avatar
Anina Kühner

studiert Germanistik und Buchwissenschaften in Mainz. Im Sommer 2012 absolvierte sie ein Praktikum beim vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare