Über 5 Millionen Deutsche verließen von 1820 bis 1934 über den Hamburger Hafen ihre Heimat. Die meisten wanderten in die USA aus. Sie hofften auf ein Leben in Freiheit und Wohlstand. Ihnen ist das Museum „BallinStadt“ gewidmet.
Löb Strauss kennt heute niemand mehr. Seine Erfindung, die Levi’s Jeans, kennt hingegen jeder. Für viele Menschen ist sie zum Symbol der Freiheit geworden. Doch auch die Geschichte von Löb Strauss ist eine Geschichte, die von Freiheit erzählt. Seine Klassenkameraden mochten ihn nicht. Das lag vermutlich nicht nur an seinem Vornamen, der auf mittelhochdeutsch Löwe bedeutet. Ein Grund war wohl auch, dass seine Familie Mitglied der bedeutendsten fränkischen Landjudengemeinde in Buttenheim bei Bamberg war. Schon 1846 ist das Leben in Deutschland für Juden kaum erträglich. Repressalien und antijüdische Gesetze gehörten zur Tagesordnung – nicht nur im Königreich Bayern, sondern überall in Deutschland.
Löb war damals 16 Jahre alt und hatte bereits Vater und Onkel durch die Tuberkulose verloren. Seine Mutter Rebecca saß oft, gequält von finanziellen Sorgen, weinend am hölzernen Küchentisch. „Wir können hier nicht bleiben“, war sie zunehmend überzeugt und schickte ein Ausreisegesuch an das Landgericht Bamberg.
Ein Stück Weltgeschichte in Hamburg-Veddel
Zwei Jahre später brach Familie Strauss nach Amerika auf. Es war eine Fahrt voller Ängste, aber auch voll Hoffnung und Zuversicht. Letztlich fand sie ein erfolgreiches Ende: Als jungen Mann lockte Strauss die Nachricht von Goldfunden nach San Francisco. Dort merkte er, dass die Glücksritter robuste Hosen benötigten und gründete eine Textilfirma: Levi Strauss & Co. Sie versorgte die Goldgräber mit einer außergewöhnlich widerstandsfähigen Hose – der Jeans.
So wie Levi Strauss zog es zwischen 1820 und 1890 4,4 Millionen Deutsche in die USA. Sie bildeten in dieser Zeit die größte Einwanderergruppe der Vereinigten Staaten. Doch was drängte die Menschen dazu, alles, was sie besaßen aufzugeben? War es überhaupt Aufgabe oder sahen die Auswanderer es als Tausch, vielleicht sogar als Investition in die Zukunft?
Antworten auf diese Fragen sollen die Auswandererhallen der „Ballinstadt“ in Hamburg geben. Vor fast einhundert Jahren waren sie für viele Emigranten die letzte „Heimstätte“ in Europa – gleichsam wurde Hamburg der Hafen ihrer Träume. Das Stück Weltgeschichte in dem Stadtteil „Hamburg-Veddel“ ist Teil der Elbinsel.
Geschichte wieder aufgebaut
Jenseits einer mehrspurigen Straße steht der Gebäudekomplex aus rotem Backstein. Die Baracken, die an dieser Stelle bis 1938 lagen, beherbergten die Auswanderer vor ihrer Überfahrt nach Amerika. In den wiederaufgebauten Hallen ist seit 2007 ein Museum. Besucher können hier vom Aufbruch über die Fahrt bis zur Ankunft die Emigration erleben und nachvollziehen.
Hinter einem Drehkreuz warten historische Exponate, animierte Bilderrahmen und Puppen ohne Gesicht. Inmitten uralter Reisekoffer, aus schwarzem, braunem und grauem Leder wird man umhüllt von einem staubigen Geruch. Er weckt Erinnerungen an Schätze alter Dachböden. Die Exponate erzählen von der Suche nach neuem Glück.
Die Ausstellung führt den Besucher durch verschiedene Stationen der Auswanderung: Die Schwierigkeiten in der Heimat, das Warten auf die Überfahrt, die Krankheiten in den Kabinen und die Ankunft in der neuen Welt.
Eine Infotafel am Eingang berichtet zum Beispiel von Walter Lowack: Mit 24 Jahren beschloss er auszuwandern. Seine Mutter war verstorben, Tante und Onkel boten an, ihn in Amerika aufzunehmen.
Längst nicht alle durften emigrieren
Alte Telefone mit Drehscheibe stehen in der ersten Halle herum. Sobald man den Hörer abhebt und eine Nummer wählt, hört man eine Männerstimme. Sie erklärt die Gründe der großen Auswanderungswelle, die 1816 in Süddeutschland beginnt. Handwerk und Wirtschaft stagnierten. Auch Ackerflächen gab es immer weniger, da sie unter den Nachkommen aufgeteilt wurden. Missernten und Hungersnöte trieben die Menschen nicht sofort dazu, ihr Land zu verlassen – aber sie begünstigten die Ausreise. Auch Repressionen durch Politik und die eingeschränkte Religionsfreiheit waren Faktoren, die die Menschen forttrieben.
Doch längst nicht jeder Ausreisewillige durfte emigrieren. Wer eine Erlaubnis bekam, entschied sich auf der Vettel: Nur Menschen, die bei medizinischen Untersuchungen für geistig und körperlich fit befunden wurden, erhielten eine Zulassung für die Überfahrt. Je nach Budget bekamen die Passagiere anschließend eine Kabine im Zwischendeck, in der zweiten oder ersten Klasse. Die Ausstellungsräume im zweiten Haus zeigen die unterschiedliche Qualität der Unterbringung: eng zusammengepfercht in einfachsten Holzbetten, grobe Kartoffelsäcke als Kissen. In den oberen Etagen: gestärkte Leinenbettwäsche, roter Teppich und Waschschüsseln aus Porzellan.
Zwischen 1850 und 1934 emigrierten über den Hamburger Hafen 5,2 Millionen Menschen – größtenteils in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Hansestadt war damit der wichtigste Ausreiseort Europas. Obwohl die Reise beschwerlich war, kamen die Menschen von überall her nach Hamburg. Teilweise warteten sie mehrere Wochen auf ihre Abfahrt. Dazu wurden sie hier untergebracht, verpflegt und medizinisch versorgt. Der Wartesaal für ein neues Leben, sozusagen. Die lazarettähnliche Halle mit einfachen Pritschen können Museumsbesucher auch heute besichtigen.
Der „Vorwärts“ prüfte die Auswandererbaracken
Sie zeigt die Zustände nach der Kommerzialisierung der Emigration zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auswandererbaracken gab es in Hamburg schon zuvor. Als sie aus Hygienegründen 1893 abgerissen werden sollten, ergriff Albert Ballin seine Chance. Der Generaldirektor der HAPAG erreichte, dass die Stadt 25 000 Quadratmeter für einen Neubau zur Verfügung stellte. Im Jahr 1901 wurden die neuen Auswandererhallen eröffnet. Die Anlage bestand aus fünfzehn Gebäuden: Empfangsgebäude, fünf Schlaf- und Wohnpavillons, zwei Hotels, Speisesaal, Kirche, Musikpavillon, Verwaltungsgebäude, Lazarett, Gepäckschuppen und Stall. Bereits drei Jahre später mussten die Hallen um 43 000 Quadratmeter erweitert werden. Rund drei Millionen Mark investierte die Reederei, die heute HAPAG-Lloyd AG heißt. Und es lohnte sich.
In der Öffentlichkeit hatten die Auswandererhallen einen makellosen Ruf. Doch es gab auch Gerüchte über katastrophale Zustände. Um das zu überprüfen, unternahm der russische Redakteur des „Vorwärts“ Julius Kaliski bereits 1904 einen Selbstversuch. Als Auswanderer getarnt, reiste er von den Grenzen Russlands zum Hamburger Hafen. Seine Erlebnisse wurden am 11.12.1904 im „Vorwärts“ veröffentlicht. Sie stellten die Humanität und Politik der HAPAG in Frage. Der Fußboden der Empfangshalle war von Fischresten übersät, berichtete Kaliski. Überall lagen Apfelschalen, Zigarettenstummel und Berge von Gepäck. Aus einem Abort floss ein Rinnsal in die Halle, „der entsetzlichen Atmosphäre neue Düfte zuführend.“ Ein verzweifelter Emigrant, den der Hunger quälte, wimmerte vor sich hin: „Weh, wie schwer machen sie uns, zu kommen in neue Welt.“
Während man sich in Strapazen und Probleme der Menschen hineinversetzt, drängt sich die Frage nach dem „Warum“ auf. Warum ausgerechnet Amerika? Ist es das entschlossene Gesicht Uncle Sams? Vielleicht der Traum von unbegrenzten Möglichkeiten? Eine Antwort ist die demokratische Verfassung Amerikas, die seit 1787 besteht. Verbindliche Grundrechte, Gewaltenteilung, Religionsfreiheit – auch das erfahren die Besucher in der Ballinstadt. Gleichheit aller Menschen und das Recht auf Schulbildung gaben den Menschen die Chance auf ein besseres Leben. Rechte, die sich in Deutschland erst nach zwei verheerenden Weltkriegen endgültig durchsetzen konnten.