Die Wohnung als Rückzugsort. Inger-Maria Mahlke zeigt sie als einsamen Kältepol. In ihrem eindrucksvollen Roman „Rechnung offen“ legt die Schriftstellerin das Elend hinter verschlossenen Türen mit dem Skalpell frei.
Ein Mietshaus in Berlin Neukölln. Eines der Unsanierten, die Gentrifizierungs-Welle, die gerade über den Bezirk rollt, hat den Schauplatz von Inger-Maria Mahlkes Roman noch nicht erfasst. So sind ihre Protagonisten, die Mieter des maroden Hauses, nicht frei und aufstrebend. Sie sitzen fest. Die Rentnerin, die alleinerziehende Mutter, der kaufsüchtige Hausbesitzer: In schnell wechselnden Szenen gewährt Mahlke Einblicke in Leben. Ihr Beobachtungszeitraum: September bis Anfang März. Ein halbes Jahr, in dem es nicht nur der Jahreszeit entsprechend kalt wird.
Schmidtke steht an der Tür im Erdgeschoss. In der Wohnung dahinter leben afrikanische Drogendealer. Ein Schlaflager aus Isomatten, keine Heizung, keine Hoffnung. Nur die Mission Geld nach Hause zu schicken, an die Familien. Ebba, die dicke Stieftochter des Hauseigentümers, nutzt die Zwangslage. Sie kriegt Marihuana zu Sonderkonditionen, dafür verrät sie die Dealer nicht an ihren Stiefvater. Die Männer können nicht wissen, dass sie das ohnehin nicht tun würde, weil Ebba freiwillig weder mit ihm noch mit ihrer Mutter spricht.
Kiffen, essen und schlafen – so verbringt Ebba ihre Tage. Ihre Ausbildung hat sie heimlich abgebrochen. Es kommt ihr ungelegen, dass ihr Stiefvater Claas in dem Mietshaus einzieht. Ebbas Mutter will nicht länger mit ihm zusammenleben. So haust Claas – Psychologe, Hauseigentümer, Kaufsüchtiger – nun in einer unsanierten Wohnung in seinem Neuköllner Altbau.
Blicke hinter verschlossene Türen
Elsa Streml wohnt hier schon ihr halbes Leben lang. Langsam verliert die alte Dame ihren Verstand, lebt mehr in ihren Erinnerungen als in der Gegenwart ihrer Mietwohnung. Bürovorsteherin in der Neuköllnischen Seidenblumenmanufaktur war sie. Ihre Freizeit hat sie mit der inzwischen verstorbenen Freundin Erika geteilt. All das ist ihr gegenwärtig. Viel mehr als die Besuche von Nicolai, dem jungen Mann der behauptet ihr Enkel zu sein. Elsa Streml erklärt sie sei kinderlos, steckt ihm aber Geld zu. Das sorgt dafür, dass er regelmäßig kommt. Er weiß nicht, dass die alte Frau die Erinnerung an eine heimliche Hausgeburt auf dem Küchentisch nicht verdrängen kann.
Von dem was um sie herum geschieht, begreift Elsa Streml immer weniger. Das ist wohl der Grund dafür, dass Lucas, der kleine Nachbarsjunge, sich an sie wendet, als seine Mutter Manuela einfach nicht mehr nach Hause kommt. Elsa Streml wird es niemandem verraten, weil sie gar nicht erfasst was er sagt. Sie kann den Kleinen aber auch nicht trösten. Überhaupt gibt es nichts Tröstliches in Mahlkes Buch. Als einer der afrikanischen Dealer stirbt ist Claas nur deshalb entsetzt, weil er denkt, er könnte den Tod verschuldet haben und haftbar gemacht werden. Unendliche Erleichterung als klar ist, dass er nichts damit zu tun hat.
Die Nachbarn leben aneinander vorbei. Die persönliche Misere soll in den eigenen vier Wänden blieben, egal wie marode die sind. Doch Mahlke ist unerbittlich und schaut hinter Wohnungstüren, die verschlossen bleiben sollen. Etwa die von Manuela. Die Mutter von Lucas ist alleinerziehend und arbeitet in einer Bäckerei. Ihre freie Zeit verbringt sie teilnahmslos auf dem Sofa. Sie ist die einzige Figur, über die die Autorin nicht in der dritten Person schreibt. „Hebst die Arme, um sie gleich wieder fallen zu lassen, ein Schwall Luft steigt aus dem Kragen auf, der riecht wie deine Mutter.“ Ein Job als Domina in einem Sadomaso-Studio wird zum Hoffnungsschimmer für Manuela. Als sie ihn verliert, geht sie. Sie haut ab und lässt ihren Jungen mit ein bisschen Geld zurück.
Nur Kälte, keine Moral
Mahlke erzählt nicht vom Scheitern in Schönheit. Sie liefert Innenansichten der Einsamkeit. Mit chirurgischer Präzision beschreibt die 1977 geborene Schriftstellerin was vor sich geht. Da liegt der sterbende Dealer in der ungeheizten Erdgeschoss-Wohnung: „In der Küche lag ein Mann auf einer Isomatte, der Mann schwitzte. Er lag vor dem Herd, die Backofenklappe stand offen, das Licht im Ofen brannte, er war leer, nicht mal ein Blech.“
Es sind diese detaillierten Zustandsbeschreibungen, mit denen die sprachmächtige Autorin den Roman von Seite zu Seite weiter verdichtet und ihm Wucht verleiht. Sie erspart uns jede Sozialromantik. Auch die Moral von der Geschichte gibt es nicht. Mahlke legt mit ihrem zweiten Roman „Rechnung offen“ ein kraftvolles Buch vor, das lange nachhallt.
Inger-Maria Mahlke: „Rechnung offen“, Berlin Verlag, Berlin 2013, 284 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8270-1130-5
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.