Man kann sie nicht sehen, aber hören. Knatternde Mofas zerreißen die ländliche Stille im Norden Frankreichs. In diesem Film steckt mehr dahinter als ein vertrautes Geräusch öder Dorfabende. Es
ist ein Zeichen des heraufziehenden Terrors gegen einen Eindringling. Seitdem der junge Arzt François seinen neuen Job in der Neubausiedlung "Die Hügel von Beauval" angetreten hat, ist dort
einiges in hektische Bewegung geraten.
Während die kerngesunden Mädchen der örtlichen Clique den attraktiven Mediziner zu sich nach Hause kommen lassen, um einander schmachtend davon zu berichten, gucken die Jungs in die Röhre.
Die Wirkung ihrer gemeinsamen Rituale, eine Mischung aus Mutproben und Doktorspielen, scheint bei den Damen nicht mehr zu verfangen. Kein Wunder also, dass die Anführer, der draufgängerische
Cédric und der melancholische Matthieu, auf Rache sinnen. Als es eines Nachts zu einem tragischen Unfall kommt, beschließen sie, François das Leben zur Hölle zu machen. Schließlich ist er auch
ohne jeden Beweis der ideale Schuldige.
Brutalität in der Retorte
Die Erkenntnis, dass sich hinter einem ländlichen Idyll Sinnlosigkeit und Brutalität verbergen können, ist nicht neu. Indes geht es um keinen klassischen Kampf der Kulturen zwischen Stadt
und Land. Im Gegenteil, denn unter den Erwachsenen findet François rasch Sympathien und Anschluss. Dessen ungeachtet möchte die französische Filmemacherin jene Retortensiedlung als "eine in sich
geschlossene Welt, in der sich ein neuer Archaismus von dumpfer Brutalität" Bahn bricht, verstanden wissen.
Mit anderen Worten: Die gepflegten Anwesen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass finstere Triebe in der abgelegenen Siedlung ebenfalls ihren Platz haben, vielleicht sogar als ein
Zeichen des Protests gegen deren Belanglosigkeit. Ihr sinnloses Alltagsleben kompensieren die Jugendlichen mit absurden Vergnügungen und Rollenbildern. Als dieses Identifikationsgerüst bedroht
wird, brechen sich die aufgestauten Triebe Bahn.
Dass in diesem Film nicht, wie sonst üblich, intrigante und frustrierte Erwachsene dem Fremdling an den Kragen wollen, überrascht. Arrivierte Eltern und Bürgerstolz bilden allenfalls das
wirtschaftliche Fundament dieser überschaubaren Ordnung. Nein, es sind Jugendliche auf der Suche nach einer eigenen Identität, die die hässliche Fratze der Reaktion zeigen. Deren Welt ist von
jener der Erwachsenen vollkommen abgekoppelt. Nichts unterstreicht dies deutlicher als das nächtliche Herumgurken, dem Mama und Papa mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Gleichgültigkeit
begegnen.
Klischeehaft mutet allenfalls das Monopol der pubertierenden Jünglinge auf den Part als Revierverteidiger an, während sich die Mädchen ihrer naiven Schwärmerei hingeben. Indem allerdings
eine der jungen Verehrerinnen François am Ende ins Verderben stürzt, wird das Rollenklischee zumindest teilweise durchbrochen.
Roh und zerbrechlich
Dieser Film ist eine Geschichte des Scheiterns. Er erzählt von einem erfolglosen Versuch, sein altes Leben hinter sich zu lassen und irgendwo anders neu anzufangen. Ebenso stellt er die
Fragilität von Gruppenbeziehungen in der industrialisierten Welt dar, die letztendlich von überkommen geglaubten Hierarchien und Riten am Leben erhalten werden. Spröde, aber kraftvolle Bilder
lassen den brodelnden Kessel stets spüren. Die kargen Dialoge decken sich mit dem zurückgenommenen Spiel der Protagonisten, das mehr erahnen als zum Vorschein kommen lässt. Gerade dadurch tritt
das Nebeneinander von Rohheit und Zerbrechlichkeit der jugendlichen Charaktere besonders deutlich zutage.
Die Ästhetik dieses Debüts zeichnet sich durch eine spröde Intensität aus, die das Innere dieser stillen, aber bedrohlichen Hysterie nach außen kehrt, ohne es zu enttarnen. Dadurch kommen
bisweilen Erinnerungen an die ähnlich rätselhaft anmutenden Psycho-Dramen eines Christian Petzold auf. Sicher hätte es dem Film gut getan, die Hauptfigur François differenzierter zu zeigen.
Nichtsdestotrotz fragt man sich nach Géraldine Bajards Erstlingswerk erwartungsvoll, welche sinnentleerte Wohlstandshölle sie als nächste vorführt.
Am Waldrand/La lisière (Frankreich/Deutschland 2010), OmU, Regie und Drehbuch: Géraldine Bajard, mit Melvil Poupaud, Audrey Marnay, Hippolyte Girardot, Alice de Jode u.a. Kinostart: 28. April