Warum landeten von drei jungen Fußballtalenten zwei in der Nationalmannschaft und der dritte im Knast? Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Diesen Fragen ist der Sportreporter Michael Horeni nachgegangen. Pünktlich zur Fußball-EM hat er ein bemerkenswertes Buch vorgelegt: „Die Brüder Boateng“.
Am U-Bahnhof Pankstraße in Berlin-Wedding lungern schon am Nachmittag einige abgehalfterte Biertrinker herum. Der kurze Weg zum Fußballkäfig führt an Dönerläden, einem Automatencasino und einem Pfandleihhaus vorbei. Hier haben sie also das Fußballspielen gelernt: Die Brüder Boateng.
Wäre Jerome Boateng nicht prominent, würde er in dieser Gegend kaum auffallen. Er trägt eine tief sitzende Jeanshose, einen grauen Kapuzenpullover und ein beschriftetes Basecap. Doch Boateng ist Fußballstar und spielt in der deutschen Nationalmannschaft. Er ist umringt von einer Gruppe aufgeregter Kinder, die laut seinen Namen rufen und um Autogramme bitten.
Mehr als nur eine Fußballer-Biografie
Kurz vor dem Start der Europameisterschaft ist Boateng noch einmal an den Ort zurückgekehrt, an dem seine Karriere begonnen hat: An den unscheinbaren Bolzplatz neben der Weddinger Bezirksbibliothek. Er ist hier, um ein Buch vorzustellen: „Die Brüder Boateng“. Geschrieben hat es der FAZ-Journalist Michael Horeni. Es ist ein bemerkenswertes Buch, das sich angenehm aus der Masse inhaltsleerer Fußballer-Biografien abhebt. Denn Horeni vergleicht drei sehr unterschiedliche Lebensläufe und wirft die Frage auf, was sie über unsere Gesellschaft aussagen.
Die Brüder Boateng, das sind Jerome und seine beiden Halbbrüder Kevin und George. Die drei haben denselben, aus Ghana stammenden Vater. Und sie alle verbrachten früher ihre Freizeit in diesem kleinen grünen Fußballkäfig an der Panke in Berlin-Wedding. Heute gilt Jerome als Musterbeispiel für gelungene Integration und begeistert die Fans der deutschen „Internationalelf“. Auch Kevin wollte deutscher Nationalspieler werden. Doch ihm hängt ein Rüpel-Image an, das ihn hierzulande auf dem Weg nach oben bremste. Stattdessen debütierte er 2010 für die ghanaische Auswahl. Das Talent für eine Profifußballkarriere hätte wohl auch George gehabt. Doch er musste feststellen, dass das allein nicht reicht.
Abseits des Spielfeldes wurden sie allein gelassen
In seinem Buch zeichnet Michael Horeni die Familiengeschichte der drei Boatengs nach und schildert ihre Karrieren. Akribisch hat er recherchiert, unter welchen Bedingungen sie aufgewachsen sind: Er hat lange Gespräche mit Jerome und George geführt, ihre Schulen besucht und ihre Jugendtrainer getroffen. Die Nachwuchsabteilung des Berliner Fußballvereins Hertha BSC kommt in seinem Buch nicht gut weg. In den 1990ern und frühen 2000ern wurde hier teilweise fahrlässig agiert. Junge Fußballer waren willkommen, wenn sie auf dem Platz Leistung brachten. Wie sie ihr Leben abseits des Spielfeldes meistern, das interessierte kaum jemanden.
Genau das wurde George Boateng zum Verhängnis. Er ist der älteste der drei Brüder. Laut dem etwas einfach gestrickten Psychogramm Horenis lässt sich sein Lebensweg ungefähr so zusammenfassen: Er wuchs ohne Vater, ohne Vorbild und ohne Ziele auf. Irgendwann geriet er an die falschen Freunde. Eine Weile lang drehte er krumme Dinger. Dann ging es schief, er landete im Knast. Mittlerweile hat er sein Leben neu geordnet. Heute ist er Familienvater und züchtet Hunde.
Jerome konnte abends in seine heile Welt zurück
Jerome hatte mehr Glück. Anders als seine Brüder wohnte er nicht in Wedding, sondern im bürgerlichen Wilmersdorf. Nach dem Fußballspielen konnte er in eine heile Welt zurückkehren, die Kevin und George nicht kannten. Die beiden Bezirke liegen nicht weit auseinander. Doch sie könnten unterschiedlicher kaum sein. Der Wedding ist ein sozial schwacher Bezirk. Armut und Kriminalität sind hier alltäglich.
Trotzdem war Kevin Boateng schlecht beraten, als er sich zu Beginn seiner Fußballkarriere von Boulevardreportern ein Ghetto-Image aufdrängen ließ. Ein paar markige Sprüche über die Regeln der Straße, dazu ein Foto in Muskelshirt und mit tätowierten Armen – schon war Kevin drin in der Schublade mit der Aufschrift „Bad Boy“. Dass Kevin eigentlich ein zuverlässiger und zielstrebiger junger Mann war, dass er sogar mit einer Gymnasialempfehlung von der Grundschule gegangen war, interessierte keinen mehr.
All das beschreibt Horeni ausführlich und mit der nötigen Sensibilität. Trotz einiger Längen hat er ein gelungenes, gut geschriebenes Buch vorgelegt, das nicht nur für Fußballfans lesenswert ist.
Das berühmte Foul
Natürlich geht es in dem Buch auch um das vielleicht berühmteste Foul der Fußballgeschichte: Das von Kevin Boateng an Michael Ballack kurz vor dem Start der WM 2010. Mit einer groben Grätsche im englischen Pokalfinale beendete Kevin damals abrupt die Nationalmannschaftskarriere des deutschen Kapitäns. Plötzlich war er Fußballdeutschlands Feindbild Nummer eins. Im sich anschließenden Medienrummel geriet auch Jerome zwischen die Fronten. Denn während der WM trafen beide Brüder aufeinander: Jerome im deutschen Trikot, Kevin im ghanaischen. Jerome galt den Medien als Musterprofi, sein Bruder als sein disziplinloses Gegenstück.
Für das ohnehin manchmal schwierige Verhältnis zwischen den Brüdern war dies keine gute Zutat. Auch das ist eine der Botschaften des Buches, die nicht nur an diesem Beispiel verdeutlicht wird: Die Traumwelt Profifußball hat Schattenseiten. Das Geschäft kann junge Talente reich und berühmt machen. Es kann sie aber auch zerstören.
Michael Horeni: Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, 267 Seiten, 18,95 Euro. ISBN: 978-3-608-50308-1.
arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.