Nichts als Verkommenheit zwischen Dorfteich und Kirche: Das polnische Drama „Ferner schöner Schein“ wirft einen experimentellen und radikalen Blick auf die Abgründe einer kleinen Gemeinschaft.
Aus der Ferne betrachtet, stellt sich so manches bekanntlich behaglicher dar als aus der Nähe. Dieser Effekt bleibt den Zuschauern bei „Ferner schöner Schein“ im Bezug auf den Schauplatz allerdings vorenthalten. Ohne jede behutsame Annäherung spülen einen die Filmemacher Anka und Wilhelm Sasnal mitten hinein in die Abgründe eines sterbensöden Dorfes irgendwo in Polen und versuchen gar nicht erst, diesem Hort der Trostlosigkeit liebenswerte Seiten abzugewinnen. Gesprochen wird kaum und wenn, dann in der Regel um dem Gegenüber seinen Ekel oder seine Missgunst zu bezeugen. Hier verschlingen noch echte Männer im siffigen Unterhemd den Braten, während die Gattin in Kittelschürze und Jogginghose durchs Dorf schlurft, um die Verkäuferin im Dorfladen zu beschimpfen oder den Nachbarshund zu quälen.
Eine dieser missmutigen Gestalten ist Pawel. Mühsam hält er sich damit über Wasser, Autos auszuschlachten. Seine größte Last sitzt zuhause, wenn sie nicht gerade wieder ausgebüxt ist: Das Leben mit seiner dementen Mutter wird zunehmend zur Qual. Vor allem, weil sie, ganz nüchtern betrachtet, Pawels Leben mit seiner Verlobten im Wege steht. Eines Tages ist die Mutter verschwunden. Kurz darauf auch Pawel selbst, und zwar ohne ein Wort an seine Verlobte. Prompt setzt sich eine düstere Dynamik in Gang, die zunächst schwer zu entschlüsseln ist.
Düstere Aussichten
„Uns sind die Bilder und die Atmosphäre wichtiger als der Plot“, sagte Anka Sasnal am Rande der Berlinale über den ästhetischen Ansatz des Paares. Kein Wunder: Seit Jahren bildet Wilhelm Sasnal, der als Maler internationale Erfolge feiert, in seinen Werken Medienwirklichkeiten ab. 2006 erhielt er den Europäischen Vincent-van-Gogh-Preis für zeitgenössische Kunst. So folgt auch dieser bereits auf vielen Festivals gezeigte Low-Budget-Film eher der inneren Logik eines Gemäldes als dem eines Drehbuchs. Das Publikum muss sich die in langen Einstellungen eingefangenen Szenen über die Nuancen in der Gestik und Mimik der Auftretenden und deren Interaktion mit ihrer Umwelt selbst erschließen, weil die spärlichen Dialoge wenig bis gar keine Orientierung bieten. Erst auf den zweiten oder dritten Blick ist zu erahnen, welch dunklen Triebe hinter den so alltäglichen anmutenden Begegnungen unter der dauerprallen Sommersonne stecken, die in ihrer Improvisiertheit mitunter an Kurzfilme – ein weiteres Standbein der Arbeitsgemeinschaft Sasnal – erinnern.
Daher ist das, was nach Pawels Abgang passiert, gerade wegen der ungeklärten Motive der Akteure so beklemmend: Zug um Zug plündern die Nachbarn wie selbstverständlich sein Heim und verarbeiten, was ihnen unnütz erscheint, zu einem großen Scheiterhaufen. Die Aussichten der Verlobten auf ein schönes neues Leben könnten also besser sein. Gleichwohl gerät auch sie auf rätselhafte Pfade. Am Ende treffen sich alle brav zur Messe im Gotteshaus, als wäre nichts gewesen. So wie immer eben. Einzig Pawels Mutter erhebt ihre Stimme.
Die Sasnals sehen sich nicht als Pessimisten, wenngleich ihr Blick auf diesen Mikrokosmos, in dem sich Wahrheit jeder selbst der Nächste ist, kaum pessimistischer sein könnte. Dafür bekennen sich zu ihrer Motivation, den (moralischen) Verfall abzubilden. In diesem Film ist ihnen das auf bestechende Weise gelungen. Mitunter fühlt man sich an ähnlich gelagerte Großtaten wie Michael Hanekes „Das weiße Band“ oder Lars von Triers „Dogville“ erinnert.
Der Willkür ausgeliefert
Beiläufig schlägt der Film einen Bogen zum Zweiten Weltkrieg und zeigt, dass spätestens damals der zivilisatorische Kitt in diesem Kaff anfing zu bröckeln. Ein Bauer berichtet, dass seinerzeit im Dorfteich eine Gruppe von Frauen auf ungeklärte Weise ertrank. „Das waren aber keine Polinnen“, betont er. Was damit gemeint ist, liegt auf der Hand und wurde in Polen über Jahrzehnte tabuisiert: Dass viele Juden, die sich in Dörfern versteckten, um der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zu entkommen, der Willkür – und auch der Habgier – ihrer neuen Nachbarn ausgeliefert waren und dies häufig mit dem Leben bezahlten.
Auch in Pawel Pawlikowskis Road-Movie „Ida“ über eine jüdische Nonne in den 1960er-Jahren fand dieses lange verschwiegene Kapitel der polnischen Geschichte Eingang, wenn auch weitaus intensiver und ausführlicher. Dass der erzählerische Aufhänger für „Ferner schöner Schein“- also der niemals aufgearbeitete moralische Super-GAU und dessen Langzeitfolgen - derart am Rande mitgenommen wird, hinterlässt dann auch einen zwiespältigen Eindruck. Nichtsdestotrotz ist dieser Film gerade deswegen so grandios, weil er auf Gut-Böse-Stereotype verzichtet und mit einer radikalen und sinnlichen Bildsprache deutlich macht, wie eine scheinbare Normalität in der unvermittelt ausbrechenden Barbarei ihr wahres Wesen entblößt.
Info: Ferner schöner Schein (Z daleka widok jest piękny, Polen 2011), ein Film von Anka und Wilhelm Sasnal, mit Marcin Czarnik, Agnieszka Podsiadlik, Piotr Nowak, Elżbieta Okupska u.a., 77 Minuten, OmU
Ab sofort im Kino
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