Dieter Graumann liest aus seinem Buch „Nachgeboren – Vorbelastet“. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland will „frischen Wind“ in die jüdische Gemeinschaft bringen. Er sagt, es ist Zeit für einen Perspektivwechsel!
Nach der ersten Lesung in München ist Dieter Graumann am Mittwochabend im Jüdischen Museum Berlin. Die Eröffnungsrede wird von Rachel Salamander, Geschäftsführerin der Literaturhandlung München, gehalten. Sie lobt den Frankfurter für sein Talent der freien Rede, für seine Geistesgegenwärtigkeit und seinen trockenen Humor. Was Frau Salamander meint, merkt man, als sie das Wort an Dieter Graumann übergibt.
Dieter Graumann wird 1950 in Israel als David Graumann geboren. Die Eltern waren nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel ausgewandert. Sie gehören zu den wenigen, die die Shoa überlebten. Sein Vater hatte sechs Konzentrationslager durchlitten. Das heiße, schwüle Klima in Israel macht dem gesundheitlich schwer angeschlagenen Mann sehr zu schaffen. Die Familie wandert wieder aus, als David 18 Monate alt ist. Sie landen über Umwege wieder in Deutschland, dem „Land der Täter“. Als David sechs Jahre alt ist, steht sein erster Schultag bevor und die Eltern stellen ihn vor den Spiegel. Sie sagen: „David! Ab heute heißt du Dieter.“
Aus David wird Dieter
Die Eltern haben Angst vor dem immer noch gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland. Der Namenswechsel soll seine Herkunft verbergen, so geben die Eltern ihrem Sohn einen „urdeutschen Namen“. David empfand damals den Namen Dieter als nicht so schlimm. Im Nachhinein schon: „Denn ich habe einen wunderschönen Namen eingetauscht gegen einen, recht freundlich gesagt, wesentlich weniger schönen – meine "Mit-Dieter" mögen es mir nachsehen oder sogar nachempfinden.“ Heute spendet sich Dieter Graumann Trost, womöglich der „einzige jüdische Dieter“ in Deutschland zu sein.
Ignatz Bubis als „politischer Mentor“
Die Tätigkeit von Dieter Graumann in der jüdischen Gemeinde beginnt bei der Finanzkommission. Ignatz Bubis, der von 1992 bis 1999 dem Zentralrat der Juden in Deutschland vorsaß, brachte ihn dorthin. Von dort aus geht Graumanns Weg weiter über den Gemeinderat bis zum Vorstand der Gemeinde. 2001 wird er Präsidiumsmitglied des Zentralrats, 2006 Vizevorsitzender und schließlich 2010 Vorsitzender. Der 1999 verstorbene Ignatz Bubis war und bleibt sein „eigentlicher politischen Mentor“, schreibt Graumann. Er fügt hinzu: „Und ich konnte unendlich viel von ihm lernen. ... Vertrauensvoll besprach, beriet er sich mit mir in seiner warmen, herzlichen, offenen und bescheidenen Art.“
„Nachgeboren“ bedeutet, nach der Shoah geboren zu sein. Aber wer einem Zeitzeugen zuhört, wird selbst zum Zeitzeugen, hebt Graumann hervor. Daher ist seine Generation „vorbelastet“. Denn „die Traumatisierungen, die unsere Eltern gequält an Leib und Seele, von der Shoah davon getragen haben“, sind das gemeinsame Schicksal der zweiten Generation nach der Shoa. Die Last der Vergangenheit wiegt schwer, „aber die Last darf und wird uns nicht erdrücken.“, betont Graumann in seinem Buch. Und schließlich wird deutlich, worum es ihm geht, was ihn antreibt.
„Frischer Wind“
Dass er einmal Vorsitzender des Zentralrats sein werde, hatte er nicht vor Augen gehabt, als er begann sich in der jüdischen Gemeinde zu engagieren, führt Graumann aus. Ihn schreckte „die erhebliche Beschränkung an persönlicher Freiheit“ ab, die dieses Amt mit sich bringt. Schließlich aber überwog für ihn die Möglichkeit, etwas zu verändern: „Denn ich spürte: Die jüdische Gemeinschaft hier verträgt und braucht eine Brise frischen Wind.“ Für Graumann ist es wichtig, auf die Kontinuität der Erinnerung zusetzen. Überdies geht es ihm auch um „einen grundsätzlichen Mentalitätswechsel, um einen echten Perspektivwechsel.“
Dieter Graumann ist es ein Herzensanliegen, dass das Judentum nicht nur mit Shoa und Antisemitismus assoziiert wird. Das Judentum hat viel mehr zu bieten. Man sei zu lange in der Opferrolle verhaftet gewesen, schreibt Graumann selbstkritisch. Diese gelte es abzulegen. Man dürfe sich nicht nur bei antisemitischen Vorfällen und nicht nur bei jüdischen Themen zu Wort melden. Es gehe viel mehr darum, der jüdischen Stimme für alle Themen, die die Gesellschaft beschäftigen, Gehör zu verschaffen. Die Lebendigkeit und die Pluralität der jüdischen Gemeinschaft könnten hierbei hilfreich sein, schreibt Graumann. So schlägt er den Aufbau einer jüdischen Akademie, wie sie gerade in Berlin verwirklicht wird, vor. Zudem möchte er ein großes Kultur-Festival des Zentralrats ins Leben rufen. Nicht nur um die Pluralität der jüdischen Gemeinschaft zu demonstrieren, sondern auch um eine gesellschaftliche Brücke zu schlagen mit „dieser herzlichen Geste der ausgestreckten Hand“.
Wir sollten die ausgestreckte Hand ergreifen. Die Erinnerung an die Vergangenheit muss wach gehalten werden, aber die Vergangenheit allein darf nicht unsere gemeinsame Zukunft bestimmen.
Dieter Graumann, Nachgeboren – Vorbelastet?, Die Zukunft des Judentums in Deutschland, Kösel-Verlag, München 2012, 224 Seiten. 19,99€