Kultur

„Die Anfängerin“: Rutschiger Start in ein neues Leben

Beim Eiskunstlauf legt eine Frau von Ende 50 die Fesseln der Vergangenheit ab. Das Drama „Die Anfängerin“ erzählt von den Mühen und Freuden des Neuanfangs.
von ohne Autor · 19. Januar 2018

„Wie alt ist denn die kleine Maus?“, fragt der Vorsitzende des Berliner Eissportclubs, als es darum geht, ein neues Mitglied aufzunehmen. „58“, antwortet Annebärbel knapp. Eigentlich ist sie gerade dabei, in ein neues Leben zu starten. Doch in diesem Moment gibt sie sich noch einmal so zugeknöpft, wie sie es seit Jahrzehnten gewohnt ist. Es ist ein Panzer, mit dem sie sich nach unzähligen Verletzungen und Demütigungen, die vor allem ihrer Mutter anzulasten sind, gegenüber der Welt abschottet. Doch auch die beste Panzerung bekommt irgendwann Risse. Spätestens dann, wenn eine sorgsam inszenierte Existenz in Trümmern liegt. Möglicherweise eine gute Gelegenheit, sich von gewohnten Masken und Zwängen zu befreien.

Weg aus der Sackgasse

Genau so ergeht es Annebärbel. Vor einigen Jahren hat sie die Arztpraxis ihrer Mutter Irene übernommen. Ihre Patienten fertigt sie lieblos und von oben herab ab. Ihre Ehe besteht nur noch aus Desinteresse und Ritualen. Die perfektionistische Irene lässt nichts unversucht, Annebärbel als Ärztin, Ehefrau und auch als Tochter schlechtzumachen. Als ihr Mann sie für eine andere Frau verlässt, liegt ihre Existenz, oder deren Inszenierung, in Trümmern. Jetzt zieht sich Annebärbel erst recht in sich zurück. Doch ein Zufall weist ihr einen Weg aus der Sackgasse. Beim Besuch des Berliner Sportforums, der einstigen Kaderschmiede des DDR-Leistungssports, entdeckt sie den Eiskunstlauf für sich. Von nun an soll alles anders werden.

„Die Anfängerin“ ist nicht nur ein Film darüber, wie sich eine Frau von ihrem bisherigen Leben emanzipiert und damit beweist, dass es für einen Neuanfang niemals zu spät ist. Regisseurin Alexandra Sell ging es in ihrem Spielfilmdebüt auch darum, die Welt des Eissports zu porträtieren. Eine Welt, die ihrer Ansicht nach bislang immer nur verklärt und verkitscht dargestellt wurde. Die Inspiration dafür kam ihr unter anderem bei einer Begegnung mit der früheren Eiskunstläuferin Christine Stüber-Errath, die 1974 für die DDR den WM- und EM-Titel holte. Die heute 60-Jährige hat einige kleine Auftritte in dem Film. Alexandra Sell zeigt den Sport so, wie ihn auch jeder Eislaufstar kennengelernt haben dürfte, nämlich als rücksichtslosen Drill im Zeichen permanenter Auslese.

Rollentausch

Das wiederum hat mit Annebärbels zaghaften Versuchen auf dem Eis wenig zu tun. In ihrer Gruppe von Hobbyläufern steht an erster Stelle, gemeinsam Spaß zu haben. Keine leichte Aufgabe für die verschlossene Medizinerin. Erst als sie ein Mädchen aus dem Leistungskader kennenlernt, gelingt es ihr, sich zu öffnen. Ungewohnterweise entwickelt sie freundschaftliche, wenn nicht gar mütterliche Gefühle. Beide tauschen gewissermaßen die Rollen. Die erfahrene Jolina hilft der angeblichen Novizin Annebärbel, sich sicher auf den Kufen zu bewegen. Doch es stellt sich heraus, dass auch die 58-Jährige als Kind begann, auf eine Karriere im Eissport hinzuarbeiten. Bis ihre Mutter diesen Traum zerstörte.

Die Bilder auf und von dem Eis, zumal vor winterlicher Kulisse, sind eine interessante Metapher für Annebärbels erstarrtes Innenleben, das ihre gesamte Mimik und Gestik bestimmt. Gleichzeitig hat das Eis für diese im Grunde sehr einsame Frau aber auch etwas Befreiendes. Alexandra Sell bringt diese Doppeldeutigkeit in eindringlichen Bildern zur Geltung. Mit größter Präzision verkörpert Hauptdarstellerin Ulrike Krumbiegel eine unnahbare Persönlichkeit, deren innere Konflikte von außen zunächst schwer zu entschlüsseln sind. Das macht es so spannend, ihr auf ihrem, auch im körperlichen Sinne, schmerzhaften Weg zu folgen.

Ungewohnte Kulisse

Annekathrin Bürger - ihr schrieb Alexandra Sell die Rolle nach eigenem Bekunden auf den Leib - legt als Mutter Irene in Sachen Kälte noch ein paar Schippen drauf. Doch auch dieser Monolith der Selbstgerechtigkeit ist nicht unerschütterlich. In ihrer ersten Kinorolle seit dem Ende der DDR zeigt die mittlerweile 80-jährige Bühnen- und Leinwandlegende eine Präsenz, die einem manchmal fast den Atem raubt. Man hätte sich gewünscht, das Drehbuch hätte den Mutter-Tochter-Szenen mehr Raum und dadurch dem auch darüber hinaus hervorragend besetzten Film mehr psychologische Tiefe gegeben. Stimmig, weil mitunter auch komödiantisch, und spannend erzählt ist dieses Drama vor ungewohnter Kulisse aber allemal.

„Die Anfängerin“ (Deutschland 2017 ); ein Film von Alexandra Sell; mit Ulrike Krumbiegel, Annekathrin Bürger, Stephan Großmann, Rainer Bock; 98 Minute; ab sofort im Kino

0 Kommentare
Noch keine Kommentare