Nun ist der Autor ja schon seit Jahren als profunder Kenner der Geschichte des Berliner Widerstands ausgewiesen. Aus seiner Feder stammen die meisten der seit 1982 in loser Folge erschienenen
Geschichten des Widerstands in den einzelnen Berliner Stadtbezirken. Herausgegeben von der Gedenkstätte Berliner Widerstand, waren sie sehr lesefreundlich geschrieben, da sie besonders in der
Bildungsarbeit genutzt werden sollten und genutzt wurden. Aber eine Gesamtschau auf ganz Berlin fehlte bislang, was besonders für den Widerstand aus der Arbeiterbewegung besonders misslich war, da
darüber in Ost und West die meisten Legenden oder gar Verfälschungen existierten.
Arbeiter-Widerstand in Ost und West
Diesen Legenden geht Hans-Rainer Sandvoss bereits in seiner Einleitung zu Leibe. Seine kritische Würdigung der Literatur über den Widerstand vor allem in Berlin und besonders über den
Arbeiterwiderstand resümiert noch einmal, wie sehr diese Literatur in Ost und West nach 1945 in sträflicher Weise einseitig ausgerichtet (Ost) oder kaum vorhanden war (West). Noch in jüngster Zeit
konnten deshalb Darstellungen über Berlin die Legende transportieren, dass es nennenswerten Widerstand aus der Arbeiterschaft kaum gab und wenn doch, dann "nur" aus den Reihen der Kommunistischen
Partei.
Mit guten Gründen spricht Sandvoss diesen Darstellungen deshalb eine nur "eindimensionale Perspektive" zu. Das war auch der schwierigen Quellenlage vor 1990 geschuldet, aber es gab bereits
vor 1990 durchaus jeweils in Ost oder West zugängliche Quellen, die ein anderes Bild zu zeichnen erlaubt hätten.
Vielfältige Quellen
Sandvoss hat nun alle vorhandenen Quellen der unterschiedlichsten Provenienz für seine Studie herangezogen. Dazu gehören in erster Linie die Akten der Gestapo, vor allem aber die zahlreichen
Prozessakten des "Volksgerichtshofes", die alle in bedrückender Weise das weite Feld des Berliner Arbeiterwiderstands abbilden. Zu den von Sandvoss ausgewerteten Quellen gehören aber auch eine
Fülle von Erfahrungs- und Erinnerungsberichten und, besonders hervorzuheben, 480 über die Jahre hinweg seit Beginn der achtziger Jahre geführten Zeitzeugengespräche.
Sandvoss ist freilich weit davon entfernt, dem Zeitzeugenbericht nicht genau so kritisch zu begegnen wie jeder anderen schriftlichen Quelle. Dennoch geben gerade die zahlreichen, jedoch
überlegt eingefügten Berichte von Zeitzeugen ein besonders plastisches Bild von den Problemen und Schwierigkeiten des Widerstands, mehr als jeder nüchtern zusammenfassende Passus aus den
Prozessakten in der menschenverachtenden Sprache der Nazi-Gerichtsbarkeit.
Sozialdemokratische Gegnerschaft
In einem ersten Abschnitt schildert Sandvoss die Gegnerschaft und den Widerstand aus den Reihen der Sozialdemokratie. Von der Zahl her nicht mit dem kommunistischen Widerstand vergleichbar,
zeichnet sich die sozialdemokratische Gegnerschaft vor allem durch eine durchgängige Resistenz aus, wie sich nicht zuletzt an der Beteiligung an Beerdigungen von Sozialdemokraten noch während des
Krieges zeigt. Die auch in die Tausende gehende Zahl bleibt freilich dennoch weit unter der Zahl der SPD-Mitglieder vor 1933.
In gewisser Weise bemerkenswert erfolgreichen Widerstand übten Mitglieder der zwischen SPD und KPD agierenden kleinen Gruppen und Organisationen. Gemessen an ihrer geringen Mitgliederzahl
nahmen an deren Widerstandsaktionen viele teil, ihre illegale Tätigkeit blieb überlegt und realistisch und in ihren Reihen waren kaum Spitzel oder Überläufer zu finden.
Der kommunistische Widerstand
Der umfänglichste Teil der Untersuchung ist dem kommunistischen Widerstand gewidmet. Das kann nicht verwundern, da Mitglieder der KPD in vielen Gruppen aktiv Widerstand leisteten, allerdings
auch die meisten Opfer bringen mussten. Sandvoss würdigt durchgängig den oft unerschütterlichen Mut von Kommunisten, die auch nach ersten Verurteilungen erneut zum Widerstand bereit waren.
Dennoch fällt die Bilanz des kommunistischen Widerstands zwiespältig aus. Sandvoss muss konstatieren, dass bei den führenden Kadern der KPD "der Einzelne gegenüber dem vermeintliche
Gesamtinteresse nicht viel zählte und für den späteren Ruhm der Partei notfalls geopfert wurde".
Widerstand auf betrieblicher Ebene
Quer zu den Abschnitten, die den Widerstand aus den Reihen der verschiedenen Arbeiterorganisationen darstellen, steht der letzte Teil, der den Widerstand "auf betrieblicher Ebene" beschreibt.
In diesem Teil gelingt es dem Autor noch einmal sehr überzeugend seine Hauptthese zu belegen: Wenn vom Widerstand der Berliner Arbeiter die Rede ist, kann nicht euphorisch von einer
Erfolgsgeschichte gesprochen werden, die Mehrheit der Arbeiter war am Widerstand nicht beteiligt.
Aber ebenso falsch ist es, von einer durchgängigen "Korrumpierung" der Berliner Arbeiter durch die Nazi-Diktatur zu sprechen. Eine bemerkenswert große Zahl Berliner Arbeiter blieb resistent
gegen dem Nationalsozialismus und eine kleine Minderheit übte auch aktiv Widerstand. Mit dieser Feststellung, - zugleich eine Polemik gegen Götz Aly -, resümiert Sandvoss, dass bei Kriegsende zwar
vom "roten Berlin" (eh mehr Legende als Wirklichkeit) nichts mehr übrig geblieben war, die versuchte nazistische "Gleichschaltung" aber dennoch nicht gelungen war.
Auf dem Weg zum Standardwerk
Die 668 Seiten umfassende Darstellung ist auf gutem Weg zu einem Standardwerk zu werden, zumal auch nicht wenige Forschungslücken geschlossen werden. So etwa bei der Darstellung der bislang
wenig und als eigene Widerstandskreis um den Kommunisten Pietzuch gar nicht bekannte Gruppe, die, freilich kaum professionell zu nennende Attentats- und Sprengstoffpläne schmiedete. Pietzuch
riskierte im Widerstand gegen den Nazismus sein Leben, verlor es aber wie nicht wenige andere Kommunisten erst im Stalinschen Gulag.
Die vom Lukas Verlag Berlin hervorragend betreute Publikation zeichnet sich nicht zuletzt durch die sehr gute Qualität der zahlreichen Fotos von Widerstandskämpferinnen und Widerstandkämpfern
aus. Der Autor hat sich akribisch bemüht, die biographischen Zeugnisse vieler bislang nur wenig bekannter Akteure des Widerstands aufzufinden. Seine knappen biographischen Skizzen setzen den oft
Unbekannten aus der "anderen Reichshauptstadt" ein längst verdientes Denkmal, die Fotos aber geben diesen Unbekannten auch ein Gesicht.
Hans-Rainer Sandvoss: Die "andere" Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945. Lukas-Verlag, Berlin 2007. 668 Seiten. 29,80 €. ISBN 978-3-93687-294-1
Siegfried Heimann (Berlin)
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