Nelly Sachs, früh schon von gesteigerter Empfindsamkeit, ist im Berliner Tiergartenviertel als einziges Kind einer assimilierten jüdischen Familie aus dem gehobenen Bürgertum aufgewachsen:
eine "Einsamkeitshölle" nannte sie diese Zeit im Rückblick. Die unglücklichen Liebe zu einem Mann, den sie mit 17 kennenlernt, der sie jedoch verläßt und dessen Identität sie zeitlebens
geheimhalten wird, wirkt sich lange Zeit lebensbedrohlich für sie aus und führt zu mehreren Sanatoriumsaufenthalten. Hier lernt sie, ihren Schmerz in Worte, in Gedichte zu fassen, die
Beschäftigung mit der Literatur wird fortan zum eigentlichen Leben. Und der Abschied vom Geliebten in wechselnder Ausformung ein zentrales Motiv in ihrem Werk.
Erste Gedichte erscheinen seit 1929, nach 1933 ist nur noch eine Publikation in jüdischen Zeitungen möglich. 1930 stirbt der Vater; Nelly Sachs zieht mit ihrer Mutter zusammen. 1939 muß
Haus und Mobiliar zwangsversteigert werden: "Bei einer Generalplünderung von Leuten, die sich ausgaben vom Sturmkommando oder SS und SA zu kommen", schreibt sie 1952 in einem Brief an die
Entschädigungsbehörde, "wurde das was ihnen gefiel mitgenommen. Und da wir immer unter der Drohung von Anzeigen und Deportation lebten wagte man keinen Einspruch zu erheben."
Dichterin jüdischen Schicksals
Mit Glück gelingt am 16. Mai 1940 die Ausreise nach Stockholm; ein einziger Koffer enthält alles, sie mitnehmen dürfen. Mutter und Tochter leben dort in einer Einzimmerwohnung, in
finanziell bedrängten Verhältnissen; Übersetzungen schwedischer Lyrik bilden die einzige Einnahmequelle. Doch aus der Beschäftigung mit diesen zeitgenössischen Gedichten gewinnt Nelly Sachs eine
neue Sprache, und in der Auseinandersetzung über die Shoa ihr eigentliches Thema; sie wird, so der ebenfalls emigrierte Germanist Walter A. Berendsohn, der ihren Rang erkennt, zur "Dichterin
jüdischen Schicksals." "In den Wohnungen des Todes", der erste Gedichtband im Exil, erscheint 1947 im Berliner Aufbau Verlag. Er enthält 13 "Grabschriften in die Luft geschrieben" aus dem Jahr
1943, mit denen sie an die ermordeten Freunde, Verwandten und Bekannten, an die "toten Brüder und Schwestern" erinnert.
Die Eßecke mit Blick auf das Meer, deshalb auch Kajüte genannt, mit vier Quadratmetern, die nur Platz bieten für Tisch und Bett, Lampe und Schreibmaschine, wird nun zum Mittelpunkt einer
ganzen Welt: Ein Nachbau bildet deshalb folgerichtig auch das Zentrum der Ausstellung. Hier entsteht ein eindrucksvolles dichterisches Werk, das freilich schweren psychischen Belastungen
abgerungen wird. Anerkennung und Ruhm bleiben nicht aus.1965 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1966 Nobelpreis, 1967 Ehrenbürgerin von Berlin.
Akademiemitgliedschaften in Darmstadt, Hamburg und München, Freundschaften mit Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Peter Hamm und anderen Autoren. Und immer wieder Aufenthalte in
psychiatrischen Kliniken, wenn die Verfolgungsängste sie zu überwältigen drohen.
Nelly Sachs stirbt am 12. Mai 1970 in Stockholm. In den letzten Jahren ist ihr Werk ein wenig in den Hintergrund getreten. Dem abhelfen will diese verdienstvolle Ausstellung, die
anschließend in Stockholm, Zürich und Dortmund präsentiert wird. Eine sehr gelungene, großformatige Bildbiographie ist als Begleitbuch erschienen. Ebenfalls im Suhrkamp Verlag ist eine
vierbändige kommentierte Werkausgabe in Arbeit.
Aris Fioretos: Flucht und Verwandlung, Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm, Eine Bildbiographie, Suhrkamp Verlag 2010, 317 Seiten,450 Abbildungen, 29.90 Euro.
Jüdisches Museum Berlin, 25. März bis 27. Juni 2010 (
www.jmberlin.de)
Mehr Informationen zur Sonderausstellung Flucht und Vertreibung, Nelly Sachs,
Schriftstellerin Berlin/Stockholm im Jüdischen Museum Berlin finden Sie unter
www.jmberlin.de
und unter der Sonderwebseite zur Ausstellung unter
www.nellysachs.com
Foto: Nelly Sachs, um 1938. Automatenbild im KaDeWe
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