Jeder fragt sich irgendwann in seinem Leben warum er ausgerechnet seinen und keinen anderen Vornamen trägt. Was haben sich die Eltern gedacht. Gingen sie nach der Mode oder wälzten sie
Vornamensbücher oder nahmen sie gar Anleihen bei den Ahnen? Den Vornamen trägt ein jeder sein Leben lang. Nur in Ausnahmefällen ist er zu ändern: So überlegen sich Eltern meist genau, welcher
Name zu ihrem Kind passen könnte. Die Autoren untersuchen unter anderem an jüdischen Familiengeschichten die Vornamensgebung der deutschen Juden vom Kaiserreich bis heute. Sie folgen den
Familienstammbäumen und zeichnen so ein Bild der Namensgebung der verschiedenen Generationen.
Assimilation durch Namen
Die meisten Juden im Kaiserreich in Deutschland versuchten sich zu integrieren. Sie lebten und arbeiteten mit den Deutschen gemeinsam. Seit Generationen waren sie diesem Land verbunden und
angesehene Geschäftsleute. Ihre Religion übten nicht wenige kaum noch aus. Sie versuchten sich anzupassen. Das ist nicht nur daran zu erkennen, das sich viele Juden zum ersten Weltkrieg als
Freiwillige meldeten, sondern auch an dem Entschluss vieler jüdischer Eltern, ihren Kindern urdeutsche Vornamen zu geben, wie zum Beispiel Siegfried oder Christian. "Durch quantitative
Vornamenanalyse lässt sich für die Juden eine zentrale Frage untersuchen, die sich für die Christen gar nicht stellt, diejenige nach der Akkulturation, der Anpassung, vielleicht sogar Angleichung
(Assimilation) an die Mehrheitsgesellschaft."
Wer kennt schon Harry Heine? Heinrich Heine hingegen ist ein Begriff. 1825 lässt sich der gebürtige Jude taufen und nimmt die Namen Christian Johann Heinrich Heine an, unter welchem er
berühmt wird. Der seit Jahrhunderten herrschende Antisemitismus ließ vielen jüdischen Deutschen keine Aufstiegschancen. Durch Taufe und Namensänderungen glaubten sie bessere Chancen im Leben zu
haben, doch auch dies meist vergeblich.
Und nicht nur in Deutschland versuchten sie namentlich anzupassen. Zionisten, die nach Israel auswanderten, nahmen meist hebräische Vor- und Nachnamen an. So identifizierten sie sich mit
der Entscheidung ein neues Leben in Israel zu führen, das alte abzulegen.
Vergangenheit und Zukunft
Mit ihrer Vornamensforschung widerlegen die Autoren unter anderem die These, dass es eine jüdische Renaissance während der Weimarer Republik gab. Bei der Mehrheit der Bevölkerung jedenfalls
nicht, allenfalls unter den Eliten. Die Vornamensforschung bezieht sich jedoch auf alle Bevölkerungsteile. Und so zieht sich eines wie ein roter Faden durch die Geschichte der Weimarer Republik
bis zur Schreckensherrschaft der Nazis: die Entschlossenheit zur Assimilierung. "Deutsche Bürger wollten die deutschen Juden sein." Die Vornamen signalisierten zudem auch einen starken Rückgang
der Religiosität. "Erst unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung sollten sich die deutschen Juden wieder auf ihre religiösen Wurzeln besinnen…"
Heute ist Deutschland eines der begehrtesten Einwanderungsziele für die Juden, vor allem die osteuropäischen. Nicht nur, dass die Religion wieder eine große Rolle spielt, auch an der
Namensgebung lässt sich das Selbstbewusstsein der Juden von heute erkennen. Wie kann das sein nach dem Holocaust? Das Fazit der Autoren: "Zum Judentum wandten sich die deutschen Juden erst
wieder, nachdem sie erkannt hatten, dass eine Flucht aus dem Judentum unmöglich war. Gleich, welche Art der Flucht: der Gemeindeaustritt oder die Taufe oder eben die Flucht in nichtjüdische
Namen, in die Mimikry des Nichterkanntwerdens. "Wie die Gojim", wie die Nichtjuden, wollten sie sein. Nicht wie alle Gojim, sondern wie die deutschen."
Doreen Tiepke
Wolffsohn, Michael; Brechenmacher, Thomas: "Deutschland, jüdisch Heimatland: Die Geschichte der deutschen Juden vom Kaiserreich bis heute", Piper 2008, 366 S., 23,60 Euro, ISBN:
978-3-492-04244-4
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