Schon für sich genommen wäre es ein Skandal. Das Innere des Ofens in der Brötchenfabrik "Weinzheimer" im Hunsrück ist über und über mit Schimmelpilzen bedeckt. Doch das Unternehmen, das für
den Discounter Lidl Aufbackbrötchen produziert, hat noch mehr zu bieten: Dumpinglöhne, Bespitzelung der Mitarbeiter und lebensgefährliche Arbeitsbedingungen für ihre Beschäftigten. Doch obwohl
manche Angestellte bereits unter chronischen Krankheiten leiden, traut sich kaum jemand, etwas dagegen zu unternehmen.
Dass der Skandal öffentlich wurde, ist einem Mann zu verdanken, der seit Jahrzehnten mit falschen Identitäten in Deutschland unterwegs ist, um auf Missstände hinzuweisen. Einen Monat hat
der Jounalist Günter Wallraff bei "Weinzheimer" geschuftet - verkleidet und unter falschem Namen. Dann hatte er genug Material zusammen, um eine Reportage für das "ZEIT-Magazin" zu schreiben und
einen Dokumentarfilm zu drehen.
Ungerechtigkeiten am eigenen Leib
Die Methoden, unter denen sich Wallraff in Unternehmen, Callcenter oder Behörden einschleicht um Ungerechtigkeiten und Repressalien in der deutschen Gesellschaft am eigenen Leib zu
erfahren, ähneln sich. Doch seine Ideen sind wahrhaft spektakulär. Erst vor wenigen Monaten erregte seine Reportage Aufsehen, in der er über seine Erfahrungen einer Deutschlandreise berichtete,
die er verkleidet als Schwarzer unternommen hatte.
Es wird eine seiner aufwändigsten Verkleidungen gewesen sein. Mithilfe einer speziellen Sprühfarbe verwandelte er sich in einen Afrikaner und lernte bei der Wohnungssuche in Köln oder bei
einer Kahnfahrt im Schlosspark Wörlitz den alltäglichen deutschen Rassismus kennen.
Doch die Reportage "schwarz auf weiß", die auch als Film in den Kinos lief, ist nicht die anrührendste aus Wallraffs Buch "Aus der schönen neuen Welt". Weit packender sind seine Erlebnisse
als Obdachloser in deutschen Städten. So "feierte" er Silvester in einem Container-Dorf hinter dem Frankfurter Hauptbahnhof, erfror beinahe in der Kölner Innenstadt und wurde in einem zur
Notunterkunft umfunktionierten Hannoveraner Bunker von einem psychisch labilen Obdachlosenkollegen bedroht.
Unterwegs als Obdachloser
Erschreckender als Schilderungen wahrlich filmreifer Szenen ist die Beschreibung der Zustände, unter denen Obdachlose in Deutschland leben - häufig nicht nur mit Billigung, sondern sogar
mit Wohlwollen der zuständigen Behörden. So verfügt der Bunker in Hannover bis heute über keine Notausgänge, ein Feuer würde alle Insassen das Leben kosten. Hinzu kommen Firmen wie das
katholische Petrusheim, eine Wohn- und Arbeitskolonie für rund zweihundert Insassen, die Obdachlose wie Kinder entmündigen und an ihrem Schicksal viel Geld verdienen - und das auf Kosten der
Steuerzahler. Der Landschaftsverband Rheinland, ein Zusammenschluss der rheinischen Städte und Kreise, zahlt nämlich für jeden Bewohner einen festen Tagessatz.
Mögen seine Methoden auch unorthodox sein und sein Ego das eine oder andere Mal zu sehr im Vordergrund seiner Schilderungen stehen: Es sind Aufdeckungen wie diese, die Günter Wallraff für
die deutsche Gesellschaft unverzichtbar machen und hoffen lassen, dass er noch häufig undercover unterwegs sein wird.
Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere, , Kiepenheuer & Witsch 2009, ISBN: 978-3-462-04049-4, 13,95 Euro
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