Kultur

Deutsche Zustände

von ohne Autor · 5. Juni 2010
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Schon für sich genommen wäre es ein Skandal. Das Innere des Ofens in der Brötchenfabrik "Weinzheimer" im Hunsrück ist über und über mit Schimmelpilzen bedeckt. Doch das Unternehmen, das für den Discounter Lidl Aufbackbrötchen produziert, hat noch mehr zu bieten: Dumpinglöhne, Bespitzelung der Mitarbeiter und lebensgefährliche Arbeitsbedingungen für ihre Beschäftigten. Doch obwohl manche Angestellte bereits unter chronischen Krankheiten leiden, traut sich kaum jemand, etwas dagegen zu unternehmen.

Dass der Skandal öffentlich wurde, ist einem Mann zu verdanken, der seit Jahrzehnten mit falschen Identitäten in Deutschland unterwegs ist, um auf Missstände hinzuweisen. Einen Monat hat der Jounalist Günter Wallraff bei "Weinzheimer" geschuftet - verkleidet und unter falschem Namen. Dann hatte er genug Material zusammen, um eine Reportage für das "ZEIT-Magazin" zu schreiben und einen Dokumentarfilm zu drehen.

Ungerechtigkeiten am eigenen Leib

Die Methoden, unter denen sich Wallraff in Unternehmen, Callcenter oder Behörden einschleicht um Ungerechtigkeiten und Repressalien in der deutschen Gesellschaft am eigenen Leib zu erfahren, ähneln sich. Doch seine Ideen sind wahrhaft spektakulär. Erst vor wenigen Monaten erregte seine Reportage Aufsehen, in der er über seine Erfahrungen einer Deutschlandreise berichtete, die er verkleidet als Schwarzer unternommen hatte.

Es wird eine seiner aufwändigsten Verkleidungen gewesen sein. Mithilfe einer speziellen Sprühfarbe verwandelte er sich in einen Afrikaner und lernte bei der Wohnungssuche in Köln oder bei einer Kahnfahrt im Schlosspark Wörlitz den alltäglichen deutschen Rassismus kennen.

Doch die Reportage "schwarz auf weiß", die auch als Film in den Kinos lief, ist nicht die anrührendste aus Wallraffs Buch "Aus der schönen neuen Welt". Weit packender sind seine Erlebnisse als Obdachloser in deutschen Städten. So "feierte" er Silvester in einem Container-Dorf hinter dem Frankfurter Hauptbahnhof, erfror beinahe in der Kölner Innenstadt und wurde in einem zur Notunterkunft umfunktionierten Hannoveraner Bunker von einem psychisch labilen Obdachlosenkollegen bedroht.

Unterwegs als Obdachloser

Erschreckender als Schilderungen wahrlich filmreifer Szenen ist die Beschreibung der Zustände, unter denen Obdachlose in Deutschland leben - häufig nicht nur mit Billigung, sondern sogar mit Wohlwollen der zuständigen Behörden. So verfügt der Bunker in Hannover bis heute über keine Notausgänge, ein Feuer würde alle Insassen das Leben kosten. Hinzu kommen Firmen wie das katholische Petrusheim, eine Wohn- und Arbeitskolonie für rund zweihundert Insassen, die Obdachlose wie Kinder entmündigen und an ihrem Schicksal viel Geld verdienen - und das auf Kosten der Steuerzahler. Der Landschaftsverband Rheinland, ein Zusammenschluss der rheinischen Städte und Kreise, zahlt nämlich für jeden Bewohner einen festen Tagessatz.

Mögen seine Methoden auch unorthodox sein und sein Ego das eine oder andere Mal zu sehr im Vordergrund seiner Schilderungen stehen: Es sind Aufdeckungen wie diese, die Günter Wallraff für die deutsche Gesellschaft unverzichtbar machen und hoffen lassen, dass er noch häufig undercover unterwegs sein wird.

Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere, , Kiepenheuer & Witsch 2009, ISBN: 978-3-462-04049-4, 13,95 Euro

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