Kultur

Deutsch-polnisches Kriegsdrama: Romanze am Todesgleis

Lange Zeit dominierten Schrecken und Heldentum das Bild vom Zweiten Weltkrieg. Das polnisch-deutsche Drama „Unser letzter Sommer“ erzählt von Momenten selbstvergessen Glücks. Mag dieses auch trügerisch sein.
von ohne Autor · 23. Oktober 2015

Welche Bilder haben wir im Kopf, wenn wir an die Erlebnisse von drei Heranwachsenden in Polen während des Zweiten Weltkriegs denken? Sicherlich keinen deutschen Rekruten, der mit zwei polnischen Altersgenossen heimlich Jazz hört. Es ist zweifellos eine der schillerndsten Szenen im Kinodebüt des polnischen Regisseurs Michal Rogalski. Und doch symbolisiert sie das inhaltliche wie ästhetische Konzept dieses Films: in einer Zeit der entgrenzten Gewalt den davon losgelösten, mitunter idyllischen Alltag jener Menschen zu zeigen, die sich außerhalb des blutigen Geschehens wähnen. Obwohl sie immer wieder daran erinnert werden, dass sie mittendrin sind.

Es ist wie bei den Erzählungen mancher Großeltern: Deren Nachkommen können oft nicht glauben, dass sich Oma und Opa an schöne Ausflüge oder Geburtstagsfeiern erinnern, obwohl gleichzeitig Schlachten tobten oder die Judenvernichtung auf Hochtouren lief. Rogalski, Jahrgang 1970, ging es so ähnlich, als er Fotografien seiner Großeltern betrachtete, die strahlende junge Menschen beim Sommervergnügen zeigen. In seinem Film verfolgt er die Spuren des trügerischen Glücks zurück bis in die damalige Zeit, will zeigen: Wie fühlte sich das an?

Zwischen Warschau und Treblinka

So sehen Postkarten-Idyllen aus: Die Hände gleiten durchs Kornfeld, als die miteinander befreundeten Romek (17) und Franka (16) im Jahr 1943 die Natur außerhalb ihres Dorfes erkunden – irgendwo im Nirgendwo an der Bahnstrecke zwischen Warschau und dem Vernichtungslager Treblinka, wohin damals pro Tag Tausende Menschen deportiert wurden. Die auch ihnen sattsam bekannten Greuel jener Zeit scheinen für sie nicht zu existieren. Würden nicht etwa entlang der Schienen immer wieder Kleidungsstücke und andere Spuren der Vernichtung herumliegen oder Romeks Kollegin in der Werkstatt im Rangierbahnhof plötzlich verschwinden.

Zur gleichen Zeit erlebt Guido die Hölle auf Erden: Weil er daheim in Deutschland „entarteten“ Jazzsongs frönte, wurde er an einen Gendarmerieposten der Sicherheitspolizei im Dorf von Romek und Franka versetzt. Als „Asozialer“ hat es der 17-Jährige in der abgestumpften Gesellschaft weitaus älterer Männer nicht leicht. Durch die Liebe zur Musik lernt er die erwähnten Altersgenossen kennen. Und ein komplizierter emotionaler Schwebezustand nimmt seinen Lauf.

Weder Monster noch Helden

Doch diese Geschichte um drei Charaktere, die weder als Helden noch als Monster durchgehen, folgt noch einem anderen Pfad. Nämlich dem Phänomen, dass Jugendliche häufig etwas anderes sein möchten, als der oder die, zu dem oder zu der sie die anderen oder „die Verhältnisse“ machen. Und davon, wie sie in Ausnahmesituationen dazu gezwungen werden, ungeahnte Entscheidungen zu treffen und „erwachsen“ zu werden. Romek träumt davon, nicht mehr als Heizer, sondern als Erster Lokführer über die Gleise zu schnaufen. So schiebt er frustriert seine Schichten mit dem cholerischen Chef, der auch noch der Geliebte seiner Mutter ist.

Urplötzlich ist all das bedeutungslos: Bei einer seiner Touren, um verlorene Gepäckstücke am Bahndamm zu stibitzen, stößt er auf ein jüdisches Mädchen, das dem Todeszug entronnen ist. Ehe er sich gründlich überlegen kann, was er mit der jungen Warschauerin anfangen soll, sind die beiden schon gemeinsam auf der Flucht. Auch Franka kann sich etwas besseres vorstellen als ewig als Bauernmagd zu schuften. Andererseits gibt es keine wirkliche Alternative, zumal der Hof, auf dem sie arbeitet, gute Beziehungen zur deutschen Kommandantur unterhält. Und aus Guido wird ohnehin nie ein kadavergehorsamer Träger des „weltanschaulichen“ Krieges, selbst wenn er auf Befehl zur äußersten Brutalität bereit ist. Er selbst ist er nur beim Musikgenuss. Und beim Flirten mit Franka.

Von Exzessen befeuerte Ungewissheit

Der Titel des Films macht bereits deutlich, dass neben naiver Romantik oder romantischer Naivität noch etwas anderes mitschwingt. Das gilt erst recht für die atmosphärischen Aufnahmen des satten Grüns im Morgennebel: Was mag danach kommen? Doch bleibt auch den Beteiligten lange unklar, welche gefährlichen Pfade am Ende tragisch enden oder überhaupt länger verfolgt werden. Obendrein braucht es einige Zeit, bis die Handlungsstränge um Guido sowie um Franka und Romek wirklich zueinander finden, selbst wenn in dieser scheinbar übersichtlichen kleinen Welt jeder mit jedem zu tun hat.

Umso überraschender und eindringlicher ist dann immer wieder der Einbruch der Gewalt, die in ihrer Unberechenbarkeit und Radikalität alles Beschauliche im Nu zerstört. Die, auch von jenen Exzessen befeuerte Ungewissheit, wie all das enden könnte, mündet in einen so überraschenden wie packenden und bedrückenden Showdown.

Falsches Gefühl von Sicherheit

Könnte sich der Alltag von Heranwachsenden damals tatsächlich so angefühlt haben? Stimmig, weil weder allzu schmalzig oder drastisch inszeniert, ist diese Erzählung allemal: Glück und Schrecken berühren und verstören gerade durch ihre Beiläufigkeit. Der Regisseur will damit noch etwas anderes zum Ausdruck bringen: „Die Hauptfiguren haben gedacht, dass sie irgendwie durch den Krieg kommen, dass der irgendwo anders stattfindet und sie ein komfortables Leben haben werden“, sagt er. „Das war falsch. So falsch, wie wir uns gerade sicher fühlen.“

Info: Unser letzter Sommer (Deutschland/Polen 2015), ein Film von Michal Rogalski,mit Jonas Nay, Filip Piotrowitz, Urszula Bogucka, André M. Hennicke u.a, 100 Minuten, Sprachen: Deutsch, Polnisch (mit Untertiteln). Jetzt im Kino

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