Kultur

Der Welt entrückt

von Die Redaktion · 6. Dezember 2006

Da ist die Hausherrin Katharina von Globig - eine "verträumte Schönheit". Völlig zurückgezogen lebt sie in Ihrer privaten Welt. Ihren zwölfjährigen Sohn Peter, den eine hartnäckige Erkältung vor der Hitlerjugend bewahrt, lässt sie seine Ruhe. "Sie selbst wollte ja auch ihre Ruhe haben." Und da ist das "Tantchen", eine Verwandte aus Schlesien. Dieses "ältliche Fräulein" sorgt für Ordnung auf dem Georgenhof. "Fremdarbeiter" - ein Pole und zwei Ukrainerinnen halten den Betrieb in Gang.

Der Herr des Hauses, Eberhard von Globig, befindet in Italien. Als "Sonderführer" der Deutschen Wehrmacht ist er "einer der Fachleute, die helfen, die Versorgung der deutschen Bevölkerung aufrechtzuerhalten". Vor seinem Aufenthalt in Italien hatte er für "die Ausschöpfung des östlichen Wirtschaftsraumes zugunsten des Großdeutschen Reiches" gesorgt. Für die Familie ist er kaum erreichbar. Und trotz seiner Stellung scheint er die drohende Katastrophe nicht zu bemerken.

Die Schule ist bereits geschlossen. Aber Studienrat Doktor Wagner lässt seinen Lieblingsschüler Peter von Globig nicht im Stich. So stapft der 70-Jährige täglich zu Fuß durch Eis und Schnee nach Georgenhof. Die russische Front ist nur noch 100 Kilometer entfernt. Den Lehrer aber beschäftigt der Gedanke, das Schul-Teleskop zu Bildungszwecken auf das Gut zu bringen. Und Katharina ist erleichtert, dass jemand die Rolle des Erziehers übernimmt.

Auf der Straße Richtung Osten mehren sich die vollbepackten Wagen. Doch die Gutsbewohner bleiben blind und taub für die Zeichen der Zeit. Als ein Ökonom auf dem Weg nach Hamburg auf dem Georgenhof einkehrt, wundert er sich über den Leichtsinn das teure Porzellan und das Silber noch in Gebrauch zu haben. Was, wenn es mal "andersherum kommt"? Wenn die Russen kommen, "dann wehe uns!" Aber man versteht nicht, beschließt nur das teure Geschirr sicherheitshalber selbst zu spülen. "Wir Deutsche sind ja auch kein Kind von Traurigkeit…, macht der Ökonom Andeutungen, "die niemand in diesem Haus verstand."

Ein durchreisender Maler rät dem Tantchen eindringlich, das Hitlerporträt in ihrem Zimmer abzuhängen. Verärgert fragt er, ob sie nicht wisse, was für ein Kerl das sei. Und ob sie mal die Leute gesehen habe die in der Ziegelei in der Stadt arbeiten? Aber da wird das Tantchen nur wütend, erwägt gar den Maler der Gestapo zu melden. Schließlich müsse man doch "hinter dem Führer stehen - gerade jetzt."

Niemand auf dem Georgenhof kann sich zur Flucht entschließen. Auch wenn sich die Aufforderungen mehren und der polnische Arbeiter schon den großen Wagen vorbereitet. Sollen sie einfach gehen und alles zurücklassen? Oder doch lieber einen offiziellen Bescheid abwarten? Auch Eberhard von Globig versäumt es, seine Familie aus Ostpreußen wegzuschicken. Viel zu spät kommt sein Aufruf zur Flucht - und selbst dann bleiben die Gutsbewohner.

Erst als die Offensive der Roten Armee losbricht, wird eilig gepackt. Doch während schon die Bombardierungen den Himmel im Osten hell erleuchten, fällt erneut der Beschluss noch zu bleiben. Vom Fenster aus können die Bewohner des Georgenhofes den riesigen Flüchtlings-Treck beobachten, den die Front vor sich her treibt. "Wir machen erst mal so weiter, bis man uns Bescheid sagt", erklärt das Tantchen.

Die Realität dringt immer stärker in das entrückte Leben auf dem Gutshof vor. Die Bewohner müssen Platz machen, um Flüchtlinge einzuquartieren. Gemeinsam mit diesen verleben sie dennoch manch netten Abend am Kamin. Es werden Geschichten erzählt und bisweilen wird mit gesenkten Stimmen über Juden gesprochen und davon, dass sich das Verhalten der Deutschen rächen werde. Aber so genau will man es dann doch nicht wissen.

Auf Drängen des Pastors versteckt Katharina für eine Nacht einen Verfolgten - einen Juden, wie sich herausstellt. Sie tut das allerdings nur, weil sie die Bitte nicht abschlagen kann. Und weil es sie reizt etwas zu erleben - etwas, dass sie später vielleicht aufschreiben könnte. Was Herr Hirsch, der jüdische Verfolgte, über die Umstände seiner Flucht berichtet und was er über die Verbrechen der Deutschen weiß, interessiert Katharina kaum. Als er geht, ist sie stolz das Abenteuer erfolgreich gemeistert zu haben. Kurze Zeit später wird Herr Hirsch aufgegriffen -Katharina von Globig verhaftet.

Viel zu spät entschließen sich die Bewohner des Georgenhofes nun doch zur Flucht. Der Katastrophe entkommen können sie nicht mehr. Peter von Globig wird als einziges Familienmitglied das Inferno überleben. Völlig betäubt stolpert er an den Toten vorbei.

"Alles umsonst" ist ein gelungener Roman. Kempowskis Figuren überzeugen in ihrem Unwille und ihrer Unfähigkeit sich der Situation zu stellen. Und doch gibt es kein Aufrechnen von Schuld. Vielmehr fügen sich Einzelschicksale zu einem Puzzle, das das Ausblenden der Realität im Angesicht der Katastrophe abbildet - mit tödlichem Ausgang.

Birgit Güll



Walter Kempowski: Alles umsonst, Knaus Verlag, 2006, 448 Seiten. 21,95 € ISBN 3-8135-0264-3.

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