Dass politische Regime dazu neigen, ihre jeweils eigenen Propheten und so genannten Chefdenker hervorzubringen, welche Programmatik und Praxis der Bewegung ideologisch zu unterfüttern haben,
lässt sich an vielen Beispielen belegen. Dass es insbesondere den Nationalsozialisten niemals an entsprechenden intellektuellen Stichwortgebern mangelte, dürfte eben-so bekannt sein. Umso
erstaunlicher ist es, das sich die historische Forschung bisher nur unzu-reichend mit derjenigen Person beschäftigt hat, die während der NS-Zeit die Funktion des parteiamtlichen Chefideologen
bekleidete - dem Deutschbalten Alfred Rosenberg.
Von daher schliesst die soeben erschienene umfangreiche Biographie des Berliner Historikers Ernst Piper zweifellos eine Lücke. Dabei geht Piper nicht in klassischer Weise dem Lebensweg
Rosenbergs nach, sondern verknüpft die biographische Erzählung mit einer ausführlichen Darstellung der Geschichte der NSDAP, zu deren Gründungsmitgliedern Rosenberg gehörte.
Einflussloser Idealist?
Indes ist die Bedeutung Rosenbergs innerhalb des Regimes sowohl von Zeitgenossen als auch von der historischen Forschung von jeher stark angezweifelt worden, verfügte er doch nach 1933
tatsächlich nur über relativ geringe direkte politische Einflussmöglichkeiten und hat die, die er hatte, im Vergleich zu anderen führenden Nationalsozialisten im Laufe der Zeit auch immer mehr
eingebüßt. An diesem Bild ändert auch die neue Biographie nichts, zeigt doch auch Piper wie Rosenberg in Konflikten mit seinen Rivalen regelmäßig den Kürzeren zog. Daraus ließe sich folgern, es
handele sich bei Rosenberg um eine Art einflusslosen Idealisten.
Bei Piper ist demgegenüber nachzulesen, dass gerade dieses, später auch in der Forschung vielfach reproduzierte Bild als Teil seiner Verteidigungsstrategie im Nürnberger
Kriegsverbrecherprozess in nicht unerheblichem Maße von Rosenbergs selbst geprägt worden ist. Denn im Unterschied zu so manchen seiner konkreten politischen Vorhaben, so die überzeugende Hauptthese
des Buches, sei Rosenberg auf seinem Hauptgebiet, dem der "weltanschaulichen Schulung", keineswegs ohne Wirkung geblieben.
Ausrottung der Sozialdemokratie
Programmatisch kommt diese "Weltanschauung" in seinem Hauptwerk zum Ausdruck, dem bereits 1930 erschienenen "Mythus des 20. Jahrhunderts" - ein Buch, das in den 1930er Jahren hinter Hitlers
"Mein Kampf" als wichtigstes Zeugnis nationalsozialistischer "Weltanschauung" galt.
Um einen Eindruck von Inhalt und Stil dieses voluminösen Textes zu vermitteln, seien hier einige kurze Bemerkungen über die Sozialdemokratie angeführt: Diese seien, so führt Rosenberg aus,
nichts anderes als Teil eines internationalen "Gesamtmarxismus" der bestrebt sei, "jede organische Gemeinschaft zugunsten fremder nomadischer Instinkte" aufzulösen; und so rief er dazu auf, "den
marxistischen Materialismus und die finanzkapitalistische Rückendeckung als eine syrisch-jüdische, fremde Pflanze aus dem deutschen Leben auszurotten".
Bereits anhand dieses kurzen Zitats lassen sich einige zentrale Elemente von Rosenbergs "Weltanschauung" dingfest machen: Die radikale Ablehnung alles vermeintlich fremden, nicht verwurzelten
und schließlich das zu den zentralen Elementen völkischer Kapitalismuskritik gehörende Feindbild eines wurzellosen, raffenden Finanzkapitals, dem das ideologische Konstrukt eines schaffenden,
heimatlichen Industrie und Arbeit gegenübergestellt wurde.
Untrennbar mit dieser Vorstellung verbunden war für Rosenberg die hier nur anklingende Annahme, hinter den gleichsam materialistischen Prinzipien des Kapitalismus und des Kommunismus verberge
sich ein und dieselbe feindliche Macht - das "Weltjudentum".
"Mystische Rassenideologie"
Diese Wahnvorstellung einer jüdischen Weltver¬schwörung war dabei lediglich ein Element eines umfassenderen auf einer mystischen Rassenideologie beruhenden und stark religiös aufgeladenen
Erlösungsantisemitismus (Saul Friedländer), dem biologische Ausrottungs- und Vernichtungsphantasien von Anfang an inhärent waren. Piper zeigt denn auch, wie Rosenberg seit 1941 die "Endlösung der
Judenfrage", über deren Verlauf er entgegen späteren Verlautbarungen stets informiert war, propagandistisch begleitete und unumwunden rechtfertigte.
Als "Reichsminister für die besetzten Ostgebiete" war er zudem, zumindest formal, für jene riesigen Territorien zuständig, in denen sich der nationalsozialistische Vernichtungskrieg vollzog.
Vor allem aus diesem Grund ist Rosenberg denn auch 1946 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.
Weltanschauungskampf
Neben der "Judenfrage" gehörte der ideologische Kampf gegen die christlichen Kirchen zu seinen zentralen Themenfeldern. So stand er schließlich in vorderster Front des so genannten
Weltanschauungskampfes mit den christlichen Kirchen und wurde auf diesem Feld auch von anderen NS-Größen, die ansonsten gegen ihn opponierten, als Autorität anerkannt.
Piper verfolgt in seiner Biographie, wie Rosenberg dieses ideologische Grundgerüst in einer Vielzahl an Büchern, Artikeln und Reden durch die Zeit hindurch lediglich wiederholt hat. Dabei hat
sich der Biograph leider teilweise von der Redundanz seines Objektes ein wenig anstecken lassen. Interessanter wäre es mitunter gewesen, den ideologischen und ideengeschichtlichen Hintergrund von
Rosenbergs "Weltanschauung" genauer zu auszuleuchten, was Piper nur an wenigen Stellen unternimmt.
Davon abgesehen vermittelt das Buch, auch wenn es insgesamt das Bild des in machtpolitischen Dingen eher ohnmächtigen Ideologen nicht wesentlich revidiert, dennoch einen guten Einblick in das
komplexe Spannungsverhältnis von ideologischer Programmatik und politischem Pragmatismus während des Nationalsozialismus.
Felix Wiedemann
Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, Karl Blessing Verlag, München 2005, 831 S., 26 €, ISBN: 3-89667-148-0
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