Der Terror der Gelangweilten
Allein die Zahlen sind monströs. Bis zu 1000 gewaltbereite Randalierer und 3000 johlende Zuschauer mischten im August 1992 bei der Massenrandale mit. Allein das bescherte den tagelangen Tumulten vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber und vor einem Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter einen traurigen Rekord. Und sie bereiteten den Boden für weitere rechte Gewaltexzesse im Schatten einer vor allem von den Unionsparteien befeuerten Debatte über die Verschärfung des Asylrechts.
Die Bilder der grölenden Horde, die unter dem Beifall der Menge den „Sonnenblumenhaus“ genannten Plattenbau mit Molotowcocktails bewerfen und anschließend stürmen, zeugen von einem unvorstellbaren Zivilisationsbruch, der durch das kollektive Versagen von Polizei, Stadt- und Landesregierung in diesem Ausmaß erst möglich wurde – mit erschreckender Symbolkraft bis heute. Eine norwegische Zeitung sprach damals von einer neuen „Reichskristallnacht“.
Rassismus in der DDR
Indem Regisseur Burhan Qurbani und Co-Drehbuchautor Martin Behnke diese Ereignisse zum Spielfilmstoff gemacht haben, bewiesen sie einigen Mut. Nicht nur, aber auch, weil die Debatte über die Ursachen der Krawalle von Rostock, Hoyerswerda und anderswo bis heute anhält. Konnten allein die Arbeits- und Orientierungslosigkeit junger Menschen im Nachwende-Ostdeutschland einen offenbar bis zur Mordlust angewachsenen Hass hervorbringen? Welche Rolle spielte der Rassismus der nach außen abgeschotteten DDR-Gesellschaft?
Fest steht: Die Gewalt wurde von breiten Kreisen der Gesellschaft in und um das Rostocker Wohnviertel getragen. Genau da setzt „Wir sind jung. Wir sind stark“ an. Der Film will nicht nur an die Ereignisse erinnern, sondern auch begreifen. Er verfolgt jenes fatale Wochenende im Zeitraffer aus der Sicht jener Heranwachsenden, die aufgrund ihrer sozialen Durchmischung für die damalige Konstellation typisch waren.
Erstaunliche Wendungen
Gelangweilte Abhänger, gebildete Bürgersöhne und letztlich auch Nazis füllen das Vakuum des Alltags, der zumindest gefühlt noch nicht so richtig in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit angekommen ist und keine Autoritäten kennt, mit Nervenkitzel, Gewalt und Provokation – also ganz im Sinne des Titels. Im Mittelpunkt steht Stefan (Jonas Nay). Nichts scheint dem Sohn eines Lokalpolitikers (Devid Striesow) ferner zu liegen als mit Mordbrennern auf Menschenjagd zu gehen. Doch Stefan, der Fragen wie „Bist du rechts oder links?“ genervt beiseite schiebt, zeigt – ebenso wie seine Gefährten – erstaunliche Wendungen.
Wird eben noch ein Nazi-Rock-Refrain skandiert, erklingt auf dem Weg vom Strand die Internationale. Vermisst der eine die einst für ihn vorgesehene Tagesstruktur eines Werftarbeiters, will der andere als Krönung der Randale, die sich auch gegen die nicht eben souverän agierende Polizei richtet, „endlich mal einen abkratzen sehen“. Für Stefan sind die Machtspielchen innerhalb seiner Gruppe auch Teil seiner Selbstfindung. Welche Abgründe sich dabei auftun, muss sein ebenso ahnungsloser wie zaudernder Vater schmerzlich erfahren, als sich beide auf dem Höhepunkt der Ausschreitungen gegenüberstehen.
Auf der anderen Seite steht Lien (Trang Le Hong). Als Arbeiterin in einer Wäscherei hat sie, anders als Stefan und Co, ihren Platz im Leben gefunden. Und den will sie um jeden Preis verteidigen. Im Gegensatz zu vielen anderen Landsleuten, die einer Rückkehr nach Vietnam entgegenfiebern. Doch die sich zuspitzende Gewalt und der Alltagsrassismus stellen Liens Durchhaltewillen auf eine harte Probe. Verständnislos muss sie mit ansehen, wie ihre Nachbarn sie plötzlich mit den – übrigens auch bei ihr nicht wohlgelittenen – „Zigeunern“ auf eine Stufe stellen – an der katastrophalen Unterbringung der Zuwanderer aus Osteuropa draußen vor der Zentralen Aufnahmestelle hatte sich die Wut vieler Anwohner, die sich um Sauberkeit und Sicherheit sorgten, anfangs entzündet.
Hochexplosives Gemisch
Beide Perspektiven wachsen zu einer über weite Strecken leisen und behutsamen Erzählung zusammen. Was angesichts des unerträglichen geistigen Gebräus der späteren Brandstifter, der Ängste der vietnamesischen Heimbewohner und des Chaospotenzials bei Polizei und Verwaltung erstaunt. Am Ende bringt Qurbani dieses hochexplosive Gemisch kontrolliert zur Entladung. Doch auf dem Weg bis zum Abend jenes 24. August vermeidet er jede Vorhersehbarkeit. Wenn wir tief in die Gedanken und Gefühle der Lichtenhagener Gang eintauchen, erscheint die kollektive Gewalt oft weit weg. Und kommt im nächsten Moment überraschend um die Ecke.
Könnte sich das Ganze am Ende so ähnlich zugetragen haben? Unterstützt von einer expressiven, weithin in Schwarz-Weiß gehaltenen Bildsprache, präsentiert Qurbani ein facettenreiche Tableau aus Stimmungen und Temperamenten – also das genaue Gegenteil einer homogenen Brutalo-Bande in trister Umgebung. Der Hass wird nicht verharmlost, aber differenziert verortet. Gerade das macht diesen Film, zumal angesichts der aktuellen Massenkundgebungen von islamfeindlichen „Wutbürgern“, so beunruhigend.
Info: Wir sind jung. Wir sind stark (Deutschland 2013), Regie: Burhan Qurbani, Drehbuch: Martin Behnke und Burhan Qurbani, mit Jonas Nay, Trang Le Hong, Devid Striesow, Larissa Fuchs, Joel Basman, Saskia Rosendahl u.a., 122 Minuten. Ab sofort im Kino