Kultur

Der stumme Schrei nach Leben

von ohne Autor · 24. Mai 2012

Ein Bürgerkrieg fast ohne Worte: Das türkische Drama „Mes – Lauf!“ erzählt in aller Stille vom Existenzkampf der Kurden in der Türkei der frühen 80er-Jahre. Seine atmosphärische Dichte verdankt der Film dem kleinen Spalt, der sich zum Seelenleben zweier ungleicher Freunde öffnet.

Es tut sich was im türkischen Teil von Kurdistan: Noch vor wenigen Jahren wurden in der Zitadelle der Metropole Diyarbakir Menschen gefoltert und ermordet. Nun soll aus dem Hort des Schreckens ein Ort der Aufklärung werden: Mittlerweile ist hinter den dicken Mauern das neue historische Museum der Stadt zu Hause. Dort, wo einst die Militärkommandatur ihr Unwesen trieb, soll zudem ein eigenes Ausstellungsgebäude zur Geschichte der menschlichen Zivilisation entstehen.

 „Mes“ zeigt den Komplex in seiner vorherigen Funktion. Und doch beschreibt ihn Regisseur Shiar Abdi – 1973 in den irakischen Kurdengebieten geboren – als einen Ort der Hoffnung. Ein verwirrter alter Mann macht sich daran, auf den mächtigen Zinnen zu tanzen. Ein Freund hat ihn in die inoffizielle Kurden-Hauptstadt verfrachtet, um ihn untersuchen zu lassen. Ohne Erfolg: Xelilo macht es wie immer: Er ist sich selbst die höchste Instanz – und rennt allen davon, die ihm zusetzen.

Also zum Beispiel auf die Festung von Diyarbakir. Der Spalt zwischen den Blöcken gibt den Blick frei auf das karge, aber auch idyllische Hochland im Südosten der Türkei. Xelilos Moment der Glückseligkeit wähnt nur kurz. Doch die leicht verklärende, aber keinesfalls zu dick aufgetragene Demonstration kurdischen Selbstbewusstseins ist unübersehbar.

Kräftige Farben für das Elend

„Mes“ malt vieles in hellen und kräftigen Farben, wenngleich der Film von düsteren Zeiten erzählt. 1980 putscht sich das türkische Militär an die Macht. Der schwelende Konflikt mit der kurdischen Minderheit wächst sich zu einem blutigen Bürgerkrieg aus. Aus Stagnation wird ein unbarmherziger Exzess der Gewalt, den beide Seiten anfeuern. Wie sich einzelne Menschen in diesem über sie hereinbrechenden Chaos behaupten, ist der rote Faden dieses Dramas.

Es geht aber auch um eine ungewöhnliche Freundschaft. Der zwölfjährige Cengo fristet mit Vater, Onkel und Schwester ein ebenso ärmliches wie ödes Dasein in der verschlafenen Kleinstadt Nuseybin. Abwechslung und ein bisschen Kleingeld verschaffen ihm Kaugummis, die er auf der staubigen Straße verkauft.

Eines Tages fällt ihm ein merkwürdiger Typ auf, der in einer Garage lebt, seinen Mitmenschen die Zigaretten klaut und wie besessen vor dem Tor des Behördenpalastes hin und her stapft. Zwischen Xelilo und Cengo entsteht eine diffuse Nähe. Als hätten zwei, die Mühe haben, ihren Platz im Leben zu finden, sich gefunden.

Der sehende Narr

Xelilos Freaktum ist von der Annäherung unbenommen. Seine mantraartigen Wanderungen wirken wie ein Orakel: Als würde er davor warnen, dass die türkische Armee eines Tages das Städtchen besetzen und von jenem Palast aus die Lage kontrollieren wird. Genauso kommt es. Der eigensinnige Graubart lässt sich davon nicht beeindrucken. Er macht weiter. So wird der Seher-Narr, der auch die Besatzer herausfordert, zum tragischen Helden. Ob es ein von Anbeginn an gewaltsames Schicksal ist, das sich nun erfüllt, bleibt Xelilos Geheimnis. So wie seine innere Welt überhaupt nur zu erahnen ist.

Auch Cengos Kindheit verliert jetzt endgültig ihre Unschuld. Schwelte der kurdische Widerstandsgeist in seinem Clan bisher im Verborgenen, findet sich der Junge urplötzlich im Untergrundkampf wieder. Wieder einmal brechen Tod und Verlust über die, die Cengo eigentlich beschützen sollten, herein.

„Mes“ ist weder ein klassisches Kriegsdrama noch eine Coming-of-Age-Studie. Trotz – oder gerade wegen – seines extremen Naturalismus lässt dieser Film vieles, darunter auch die politischen Hintergrunde des Konflikts zwischen Kurden und Militärregime, im Vagen: Größtenteils folgt er der Perspektive Cengos. Erst langsam begreift er das wahre Ausmaß der kurdischen Tragödie, die sein Leben auf den Kopf stellt. Die von so kurzen wie spröden Dialogen unterbrochene Langsamkeit des großen Schweigens hat am Anfang etwas Lähmendes, entfaltet mit der Zeit – im Angesicht der Bedrohung – jedoch eine ungeheure Intensität.

Tränengas zur Premiere

Bemerkenswert sind auch die Umstände, unter denen Shiar Abdis Film entstanden ist und seinen Weg in die Öffentlichkeit fand. „Mes“ ist der erste Film, der in kurdischer Sprache in den türkischen Kurdengebieten gedreht werden konnte. Noch vor zehn Jahren wäre das unmöglich gewesen. Doch auch heute, wo die demokratische Öffnung der Türkei nie da gewesene Ausmaße erreicht, erging das Drama nur knapp einem Verbot.

Seine Uraufführung feierte es am Originalschauplatz Nuseybin nahe der türkisch-syrischen Grenze – und zwar unter Tränengasbeschuss, wie berichtet wird. Und doch: Auf dem Internationalen Filmfest von Antalya wurde „Mes“ im vergangenen Jahr gleich dreifach ausgezeichnet. Auch das ist die Türkei von heute.

Info: Mes – Lauf! (Türkei 2011), Regie: Shiar Abdi, Drehbuch: Shiar Abdi und Selamo, mit Selamo, Abdullah Ado u.a., kurdische Originalfassung mit deutschen Untertiteln, 88 Minuten.

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