„Der Schein trügt“: Ein Heiliger liebt die Sünde
Ist es eine Gnade Gottes oder eine Versuchung des Teufels? Eines Tages trägt Stojan einen Heiligenschein. Und das ist nicht etwa symbolisch gemeint. Immerhin: Aus Sicht seiner Mitmenschen in der provisorischen Armensiedlung irgendwo auf dem Balkan hätte der fürsorgliche und gutmütige Familienvater den leuchtenden Schmuck über seinem Kopf ohnehin verdient. Stojan, die gute Seele, wird zur Attraktion.
Seiner resoluten Frau ist das Ganze unheimlich. Nada beschließt: Der Heiligenschein muss weg. Am besten mit einem kräftigen Gegenmittel: Stojan soll im streng religiösen Sinne sündigen, was das Zeug hält.
Sündigen gegen den Heiligenschein
Schlemmen, Alkohol und außerehelicher Sex: Nach anfänglichem Zögern findet Stojan an dem lasterhaften Dasein Gefallen. Damit beginnt sein unaufhaltsamer Aufstieg. Den Heiligenschein wird der zum egozentrischen Brutalo Gewandelte allerdings nicht los. Er bleibt ihm als eine Art Gütesiegel erhalten.
Der schöne Schein, der einen Menschen umgibt, kann von seinen weniger schönen, womöglich üblen Seiten ablenken. Dieses aus dem wahren Leben abgeleitete Prinzip zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Dieses Leitmotiv verfolgt die Komödie des serbischen Regisseur Srdjan Dragojevic in drei Zeitabschnitten und aus verschiedenen Perspektiven.
Vom Flüchtling zum Staatschef
Wir erleben, wie es Stojan vom sozial benachteiligten Geflüchteten über den Posten des Gefängnisdirektors bis an die Spitze eines fiktiven südosteuropäischen Landes schafft. Die Zeitachse reicht von den frühen 90er-Jahren bis über die Gegenwart hinaus.
Es gibt Bezüge zum Geschehen im früheren Jugoslawien, doch der Kontext bleibt vage. Das ist nur konsequent, schließlich ist das Prinzip, von dem erzählt wird, nicht nur in dieser Region gelebte und erlebte Realität.
Drama, Fantasy und realer Sozialismus
Drama, Komik, Fantasy und sozialer Realismus: Dragojevics Satire auf Gesellschaften ohne Werte und ihre manipulativen Mechanismen arbeitet mit verschiedenen Tonalitäten, bleibt im Kern aber eine Komödie. Dieses Wechselspiel macht den Film ebenso unvorhersehbar wie unterhaltsam.
Letztendlich dreht sich „Der Schein trügt“ um Wunder. In jeder Episode gibt es eines. Die erste handelt davon, wie Stojan zu seinem Heiligenschein kommt. In der zweiten begegnet der geistig verwirrte und inhaftierte Künstler Gojko einer Heilligen und verwandelt sich in ein Baby. Was Stojan, mittlerweile der Chef des Knastes, nicht davon abhält, auf die Vollstreckung der Höchststrafe zu pochen.
Und zum guten Schluss erleben wir, dass Kunst Menschen – im wörtlichen Sinne – ernähren kann. Das verspricht nicht nur Hilfe für die Hungernden dieser Welt, sondern auch dicke Geschäfte. Kein Wunder, dass dieses Wunder Stojan, nunmehr Staatspräsident, auf den Plan ruft.
Eine wahrhaft reine Seele
Nicht jede Bedeutungsebene erschließt sich auf Anhieb. Und nicht jede ist überzeugend. Zum Beispiel die Idee, dass nur eine wahrhaft reine Seele von Gott gesehen und erhört werden kann, wie Dragojevic Gojkos Geschichte umschreibt. Das klingt eher nach Tolstoi und Dostojewski als nach einem kritischen Menschenbild im 21. Jahrhundert.
Auch bei der „nahrhaften Kunst“ holpert es ein wenig, sowohl inszenatorisch als auch inhaltlich. Diese Episode ist als Seitenhieb auf Kunstformen gemeint, die dazu dienen sollen, Künstler*innen materiell zu ernähren. „Der neoliberale Kapitalismus kann schlicht nicht akzeptieren, dass Kunst nicht mehr ist als das Bedürfnis des Künstlers, etwas über die Welt um ihn herum auszudrücken“, so Dragojevic. Soll heißen: Kunst soll nicht Mägen, sondern den Geist füllen.
Dass Kunst, die sich (gut) verkauft, durchaus wahrhaftig sein kann, ignoriert der 58-Jährige, der sich auch als gesellschaftspolitischer Aktivist sieht. Mehrere Jahre saß er für die Sozialistische Partei im serbischen Parlament.
Krasse Gegensätze
In diesem Rahmen ist auch ein Film zu sehen, mit dem er 2011 Erfolge in Südosteuropa und bei der Berlinale feierte: „Parada“ erzählt davon, wie ein schwules Paar und ein homophober Kriegsveteran für eine Gay Pride in Belgrad kämpfen.
Denkbar krasse Gegensätze kostet auch „Der Schein trügt“ ausgiebig und lustvoll aus. Etwa durch seinen wilden Ritt durch verschiedene Lebenswelten, aber auch, wenn sich Menschen unverhofft begegnen und einander wie Außerirdische betrachten. Zum Beispiel, als sich für Stojans Familie der Kreis schließt und der Sünder in höchster Vollendung wenig später selbst zum Kunstwerk wird.
Bis dahin erleben wir eine rauschhafte Reise durch ein Reich von Hedonismus, Dünkel und Machtgeilheit in verschiedenster Form. Im Gepäck gibt es reichlich schwarzen und lakonischen Humor. Dieser und der geschickt nuancierte Blick auf soziale Realitäten tragen dazu bei, dass Dragojevic bisweilen schrille und ästhetisch ambitionierte stets Satire geerdet bleibt.
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