Kultur

Der Mensch Wehner

von Die Redaktion · 19. Oktober 2006

Herbert Wehner war eine der prägenden Gestalten der alten Bundesrepublik. Mehr noch: In seinem Leben und in seiner Persönlichkeit spiegelt sich die Geschichte unseres Volkes im 20. Jahrhundert mit ihren Brüchen und Spannungen in ganz besonderer Weise wider. War er doch der einzige führende Kommunist, der sich aus eigener Entscheidung vom Kommunismus trennte und zu einem führenden (sozial)demokratischen Politiker wurde. Kein Wunder, dass er auch zu den umstrittensten Politikern seiner Epoche gehörte.

Mit einzelnen Aspekten des Wehner'schen Lebensweges haben sich Zeithistoriker schon in der Vergangenheit beschäftigt. Eine wirkliche Biographie hat indes bis heute gefehlt. Diese Lücke wird durch die Arbeit von Christoph Meyer geschlossen. Er konnte ersichtlich nicht nur auf viele Archivbestände, sondern auch auf die privaten Unterlagen zurückgreifen, die sich im Besitz von Greta Wehner befinden und ihm vollständig zugänglich waren. Entstanden ist auf diese Weise ein Werk, das die detaillierte Darstellung der einzelnen Lebensphasen mit einer eindrucksvollen Würdigung des Politikers und des Menschen Herbert Wehner verbindet.

Das vordergründige Interesse wird sich jetzt wohl zuerst dem Moskauer Exil und der Frage zuwenden, wie sich Herbert Wehner dort verhalten hat. Meyer lässt keinen Zweifel daran, dass Herbert Wehner jedenfalls in dieser Zeit noch ein überzeugter und linientreuer Kommunist war. Er widerlegt aber akribisch den Vorwurf, Wehner sei der eigentlich Verantwortliche für die damaligen Stalinschen Säuberungsmaßnahmen gegen deutsche Kommunisten gewesen. Übrig bleibt, dass er eines von vielen Rädchen des riesigen Verfolgungsapparates des NKWD und überdies selbst vorübergehend von gefährlichen Sanktionen bedroht war. Aber auch die Behauptung, Herbert Wehner habe noch nach 1946 in konspirativer Verbindung mit der sowjetischen Führung oder der Führung der DDR gestanden.

Intensivere Aufmerksamkeit verdienen andere Abschnitte der Biographie. So die Schilderung, in welcher Umgebung Herbert Wehner aufwuchs, warum er Kommunist wurde und warum er 1943 in Schweden mit dem "Gott brach, der keiner war". Wenige werden wissen, dass er für sein weiteres Leben auch wieder zum Christentum zurückfand.

Dann vor allem aber die Beschreibung seiner großen politischen Leistungen. Etwa seines Anteils daran, dass die Sozialdemokratie nach langen Jahren der Opposition regierungsfähig wurde. Er - und Meyer schildert das sehr penibel - verhalf 1959 dem Godesberger Programm zur Annahme, er befreite die Sozialdemokratie mit seiner historischen Rede vom 30. Juni 1960, in der er die Westintegration der Bundesrepublik bejahte, aus ihrer außenpolitischen Isolation. Und er arbeitete über Jahre hartnäckig auf das Zustandekommen der ersten Großen Koalition hin.

Aus der folgenden Zeit bleibt die Erinnerung an den "Zuchtmeister" der Bundestagsfraktion, der den Bundesregierungen Brandt und Schmidt den Rücken freihielt und vor allem die inneren Reformen und die Ostpolitik aus vollem Herzen unterstützte. Dabei übergeht Meyer auch die Spannungen zwischen Brandt und Wehner nicht. Er führt sie auf den Kern zurück, indem er sie der journalistischen Zutaten entkleidet. Dieser Kern lag in den unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen der beiden.

Es bleibt auch die Erinnerung an den vorbildlichen Parlamentarier, der bei allen Sitzungen bis spät abends präsent war und die Debatten mit Reden prägte, deren verschlungene Sätze auch dann noch aufgingen, wenn es die Zuhörer kaum mehr für möglich hielten. Der wie ein Vulkan explodieren konnte und dennoch im Grunde seines Herzens ein mitfühlender Mensch war.

Noch etwas vermittelt das Buch: nämlich die Überzeugung, dass Wehner sich seines frühen Irrtums stets bewusst geblieben ist. Dass sein ganzes späteres Engagement von dem Bestreben getragen war, sein Volk und sich selbst - so hat er es selber formuliert - wieder gutzumachen. Wiedergutmachung im Sinne einer Überwindung der Vergangenheit und des Aufbaus eines demokratischen, freiheitlichen, gerechten und solidarischen Gemeinwesens. Auch, indem er Zehntausende unterstützte, die sich insbesondere wegen der Entlassung aus den Gefängnissen der DDR, wegen der Ausreise oder wegen Besuchserlaubnissen an ihn wandten.

Das Buch ist zum 100. Geburtstag Herbert Wehners erschienen, den er am 11. Juli dieses Jahres hätte feiern können. Es wäre zu wünschen, dass es viele zur Hand nehmen, um den Ablauf des letzten Jahrhunderts besser zu verstehen. Und um einen Mann kennen zu lernen, der Politik als Verpflichtung verstand - auch als Verpflichtung, eigene Irrtümer zu überwinden. Ein Mann, der deshalb auch heute noch unsere Achtung verdient.

Christoph Meyer: Herbert Wehner Biographie, dtv-Taschenbuch,

München 2006, 596 Seiten, 16 Euro,

ISBN 3-423-24551-4

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