Kultur

Der innere Bürgerkrieg

von ohne Autor · 23. Juni 2011
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Am Anfang und am Ende dieses Films steht ein existenzieller Schock. Während der letzten fünf Jahre ihres Lebens war Nawal Marwan verstummt. Als habe sie keine Worte für die quälende Last in sich. In einem Foltergefängnis irgendwo im Nahen Osten war sie über Jahre der Willkür ihrer Peiniger ausgeliefert. Mit systematischen Vergewaltigungen sollte die trotzige Frau, die den erbärmlichen Alltag mit Liedern vertrieb, zum Schweigen gebracht werden. Nach vielen Jahren im kanadischen Exil ist das verdrängte Leid plötzlich wieder da.

Nawals Zwillinge sind fassungslos, als sie ihren letzten Willen vorgelesen bekommen: "Beerdigen Sie mich völlig nackt. Beerdigen Sie mich ohne Sarg. Ohne Kleidung, ohne Leichentuch. Ohne Gebet. Mit dem Gesicht zum Boden." In Frieden unter einem Grabstein ruhen kann sie erst, wenn Jeanne und Simon den "Kreis der Gewalt" durchbrochen haben - indem sie ihrem Bruder, von dem sie bisher nichts wussten, einen Abschiedsbrief überreichen, ebenso wie dem tot geglaubten Vater. Simon will die Vergangenheit ruhen lassen. So macht sich Jeanne zunächst alleine auf den Weg ins Land der Eltern. Beide haben das Leid der Mutter allenfalls erahnt. Nun zeigt sich das wahre Ausmaß. Was anfangs an ein düsteres Märchen erinnert, wendet sich rasch zu einer brutalen Realität.

Eins plus eins ist eins

Die Narben, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat, sind tiefer und unübersichtlicher als gedacht. Am Ende ist nicht nur Jeannes Bild von ihrer Familie dahin, sondern auch ihre Logik: Die Mathematik-Dozentin sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass eins plus eins auch eins ergeben kann. Die Zahlen-Metapher erschließt sich dem Zuschauer nur zögerlich. Umso erdrückender ist ihre Wucht, mit der sie ihn nach der Entschlüsselung überwältigt. Auch die Vorstellungskraft der Geschwister wird auf eine unerträgliche Probe gestellt.

"Die Frau, die singt" könnte überall spielen. Von ideologischen wie militärischen Fronten zerrissene Familien und Dorfgemeinschaften erinnern an zahllose andere Konflikte. Weder das Land noch die Städte, die sowohl Jeanne als auch die junge Nawal durchstreifen, tragen Namen. Gleichwohl legt die Biografie des Dramatikers Wajdi Mouawad - er lieferte die gefeierte Theatervorlage "Verbrennungen" für das Drehbuch - nahe, dass der libanesische Bürgerkrieg mitschwingt: 1968 im Zedernstaat geboren, floh Mouawad als Neunjähriger mit seiner Familie nach Frankreich. Später wurde Kanada zur neuen Heimat.

Die schiere Größe dieses Stoffes inszeniert Regisseur Denis Villeneuve überwiegend mit Bildern anstelle von Dialogen. In langsamen Kameraeinstellungen verkörpern schäbige Häusermeere, Felsen und Wüste den Erfahrungsraum, der sich vor Mutter und Tochter auftürmt. Teils verwirrende Überblendungen verbinden die Zeitebenen miteinander.

Gerade der Wechsel der Perspektiven macht diesen unaufgeregt inszenierten Film so eindringlich. Lässt man sich in einer Szene mit Nawal immer tiefer in den Strudel der Gewalt hineinziehen, verzweifelt man im nächsten Moment gemeinsam mit Jeanne an der Aufgabe, den Rätseln jener blutigen Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Die Odyssee gewinnt an Fahrt, ohne ihr vom gewohnten Zeitgefühl abgekoppeltes Wesen zu verlieren. Dass gerade die Erfahrung von Tod und Folter meist Fragment bleibt, steigert die Spannung um ein Weiteres.

Moralischer Berg

Wie lässt sich mit Monstrosität leben, ohne selbst zum Monstrum zu werden? Was heißt es, Vergebung zu ertragen? Villeneuve verhandelt grundlegende Fragen, die gemeinhin eher attische Tragödien als Kinofilme auszeichnen. Der moralische und psychologische Berg ist gewaltig. Auch dramaturgisch mutet der Filmemacher dem Publikum während mehr als 130 Minuten einiges zu.

Die Kombination der Erforschung einer traumatischen Vergangenheit mit einem, nun ja, ödipalen Handlungsstrang scheint auf den ersten Blick den Rahmen zu sprengen. Auch die Art und Weise, wie Jeanne und Simon Licht ins Dunkle bringen, wirkt teils recht konstruiert. Sind sie anfangs völlig auf sich gestellt, tauchen mit der Zeit immer mehr unerwartete Helfer auf, die ihnen den Weg zu einstigen Folterknechten und Warlords weisen.

Doch gerade die Verknappung lenkt den Blick auf die Entwicklung der beiden Protagonistinnen, wunderbar gespielt von Lubna Azabal (Nawal) und Mélissa Désormeaux-Poulin (Jeanne). Deren behutsames Agieren erleichtert es, sich auf die Figuren einzulassen, indem man in ihren Gesichtern liest. So kommt das innere Chaos von Nawal erst recht zur Geltung. Der blinde Überlebenstrieb kennt keine Worte.

Die Frau, die singt (Incendies) (Kanada/ Frankreich 2010), Regie und Drehbuch: Denis Villeneuve (nach dem Theaterstück "Incendies" von Wajdi Mouawad), mit Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette u.a., 131 Minuten, Arsenal Filmverleih. Kinostart: 23. Juni Weitere Informationen: http://arsenalfilm.de/die-frau-die-singt/

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