„Der Hauptmann“: Massenmord als Mogelpackung
Nach Kriegsende erlangte Willi Herold als „Henker vom Emsland“ traurige Berühmtheit. Allein und ohne Marschbefehl irrte der Soldat im Frühjahr 1945 durch Nordwestdeutschland, dabei stets die Feldjäger und ein drohendes Standgericht im Nacken. Doch irgendwann dreht der 20-Jährige den Spieß einfach um. In einer zufällig entdeckten Hauptmannsuniform traut er sich wieder unter die Leute. Bald scharren sich andere flüchtige Soldaten um ihn. Gemeinsam erschaffen sie die „Kampfgruppe Herold“. Gemeinsam ziehen sie übers Land und verüben ein Blutbad nach dem anderen. Zum Beispiel an solchen Menschen, die den Krieg verloren gegeben haben. Herold berauscht sich an seiner Macht über Leben und Tod, aber auch an seiner Kunst, sich zu verstellen. Am Ende haben der falsche Hauptmann und seine Komplizen mehr als 120 Menschen auf dem Gewissen.
Moralisch aufrecht
Es ist eine ebenso groteske wie grausame Geschichte, die Regisseur und Drehbuchautor Robert Schwentke nun fürs Kino adaptiert hat. Ihm ging es darum, zu erzählen, wie ganz einfache Menschen einen entscheidenden Beitrag leisteten, das Nazi-System und dessen Werte auch dann noch am Leben zu erhalten, als der Krieg längst an seinen Ursprungsort zurückgekehrt war. Schwentke folgt dabei gänzlich der Perspektive der Täter. Auch, um zu vermeiden, dass die Zuschauer sich mit einer womöglich integren Figur identifizieren. „Wir hoffen und stellen uns alle vor, dass wir moralisch aufrecht und mutig genug gewesen wären, um uns dem System entgegenzustellen“, sagt der 1968 geborene Filmemacher. „Doch die Geschichte und Fakten widersprechen dem. Ich wollte, dass es keinen expliziten moralischen Kompass gibt, sodass das Publikum seinen eigenen Standpunkt finden und sich fragen muss: Wie hätte ich mich verhalten?“
Schwentke vermeidet es, nach psychologischen Erklärungen für Herolds Verhalten zu suchen. Vielmehr wird deutlich, wie sehr diese Figur, auch in ihren Widersprüchen, ein Produkt von Verhältnissen ist, in denen Kategorien wie Menschlichkeit nichts gelten. Wo für einen nichts mehr zählt als das bloße Überleben. Seine Camouflage-Strategie geht auf: Je dreister er die Lüge vom sauberen Hauptmann lebt, desto besser gehen die anderen ihm auf den Leim. Zu Beginn muss der Mann, der lautstark verkündet hat, in dem sich auflösenden Führerstaat für Recht und Ordnung zu sorgen, eine entscheidende Prüfung bestehen. Dorfbewohner führen ihm einen vermeintlichen Dieb vor. Was nun? Herold erschießt den Delinquenten. Fortan geht ihm das willkürliche Töten leichter von der Hand. Wie ein König lässt sich Herold von seinen Schergen im benzinlosen Wagen die Wege entlang ziehen. Als die Truppe bei einer Kontrolle aufzufliegen droht, treibt der Anführer die Täuschung noch weiter: Man sei in geheimer Mission unterwegs, beauftragt „von ganz oben“. Gemeinsam mit der Militärpolizeistreife begeben sich die Männer in ein Straflager für Wehrmachtssoldaten. Herold macht sich daran, Gefangene zu verhören und zu exekutieren. Der „Hauptmann“ und seine Mannen lassen sich feiern. Als wenig später alliierte Bomber die Baracken zerstören, ist zwar das „schöne Lagerleben“ vorbei, doch Herold und Co. sind noch lange nicht am Ende.
Unerträglich brutal
Trotz des Täterblicks ist Schwentkes Film um Distanz zur Hauptfigur bemüht. Das wird unter anderem mit eindringlichen Schwarzweiß-Bildern erreicht, die der bewusst von theatralischen Motiven durchsetzten Erzählung einen abstrakten Rahmen geben. Anstatt zu versuchen, Herolds Leben und dessen Zeit im naturalistischen Sinne authentisch wiederzugeben, werden Mechanismen offengelegt, die diesen Blutrausch möglich gemacht haben. Dazu gehören einige groteske, aber auch unerträglich brutale Szenen. Herolds Maßlosigkeit lässt erahnen: Das kann nicht ewig so weitergehen. Der echte Willi Herold wurde 1946 von den britischen Besatzern hingerichtet. Diesen Teil der Geschichte hebt sich „Der Hauptmann“ für den Abspann auf.
„Der Hauptmann“ (Deutschland, Frankreich, Polen 2017), ein Film von Robert Schwentke, 119 Minuten, ab 16 Jahren