Todesangst in einem stinkenden Labyrinth: Mit ungeheurer Wucht und Beklemmung erzählt „In Darkness“ – Polens Kandidat für den Oscar – von weithin unbekannten Holocaust-Schicksalen. Ein Gespräch mit Hauptdarstellerin Maria Schrader über Dreharbeiten am Rande des emotionalen Limits und Überlebensgeist in Extremsituationen.
vorwärts.de: Frau Schrader, mit der Jüdin Paulina Chiger spielen Sie wieder einmal eine Figur der Zeitgeschichte. Über derlei Persönlichkeiten haben Sie gesagt: „Im Krieg werden aus mittelmäßigen Biografien unglaubliche Schicksale.” Was heißt das für Paulina, die 1943 mit anderen Ghettobewohnern vor den Nazis in die Kanalisation von Lvov (Lemberg) flieht?
Maria Schrader: Diese Menschen wurden gezwungen, über sich hinauszuwachsen. Sie durchlebten eine Situation, die man sich nur theoretisch vorstellen kann. Unsere Faszination dafür rührt daher, dass wir keine Ahnung haben, wie wir reagieren würden. Dinge können sich umkehren: Menschen, denen man es vorher nicht zugetraut hätte, entwickeln eine ungeheure Kraft und Lebenstüchtigkeit. Oder es kommt ganz anders: Der Kanalinspekteur Leopold Socha riskiert für die Juden das Leben seiner Familie, ohne dazu gezwungen zu sein.
Inwiefern wächst Paulina über sich hinaus?
Vielleicht ist so etwas für Eltern einfacher: Wenn man Verantwortung für zwei Kinder hat, sind die Prioritäten klar: Die Konzentration darauf, es ihnen so erträglich wie möglich zu machen. Wenn man weiß, man ist für jemanden da, hält einen das auch.
Im Gegensatz zu ihrem Mann Ignacy scheint Paulina keine Probleme damit zu haben, auf engstem Raum mit Menschen „geringeren Standes“ eingepfercht zu sein.
Es gibt Standesunterschiede, die auch das Ehepaar Chiger auf unangenehme Weise zu spüren bekommt. Als Ignacy für das Überleben aller anderen zahlt, schafft das eine zweifache Abhängigkeit. Die Zahl der Menschen, die Socha retten kann, ist begrenzt: Indem Ignacy mit seinen Vertrauten Menschen für die Rettung selektiert, kopieren sie die Methoden ihrer Feinde. Das ist perfide und besonders grausam.
Wiederholt werden Paulinas sexuelle Sehnsüchte angedeutet. Wie schafft man eine sinnliche Atmosphäre im Kontext von Dreck, Dunkelheit und Todesangst?
Der Mensch kann mehr ausblenden als man sich vorstellen kann. Man darf nicht vergessen: Wir haben das gespielt. Jeder wusste, dass uns am Ende des Tages eine heiße Dusche erwartet. Ein Großteil der Kanalisationsszenen entstand im Studio. Neben all den Röhren und Gängen war auch die Kammer mit dem Becken voller Exkremente nachgebaut. Natürlich waren die Exkremente keine Exkremente. Irgendwann sind wir in die Unterwelt unseres Drehortes Lodz gegangen. Jede Kanalisation ist in zwei getrennte Systeme aufgeteilt, Frischwasser und Abwasser. Wir haben nur in der Frischwassersektion gedreht. Diese Menschen haben in der Abwassersektion überlebt. Unvorstellbar!
Wie sind Sie an diese Schicksale herangegangen?
Ich stehe solchen Geschichten mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken gegenüber. Wir haben viel in einem Leipziger Studio gedreht, mussten aber auch durch Gullis in die Lodzer Kanalisation einsteigen und 500 Meter bis zum Set laufen. Ich wusste: Werde ich jetzt klaustrophobisch, brauche ich sehr lange, um wieder herauszukommen. Auch wenn ich so aussah und so gerochen habe, wurde mir das, was diese Menschen ausgehalten haben, immer unvorstellbarer. Sie lebten in einer Parallelwelt ohne Rhythmus und Licht. Dennoch schufen sie sich ein Raster: Man hat sich jeden Tag gewaschen und rasiert. Es wurde Gymnastik gemacht, die Kinder unterrichtet und der Geist lebendig gehalten.
Inwiefern ist die Kanalisation eine Metapher für die Untiefen der menschlichen Natur?
Der Film spielt mit dem Nebeneinander von Ober- und Unterwelt. Oben gibt es Rhythmus, Licht und Zusammenhänge, die einen regulieren. Und dann diese dunkle Unterwelt: Man sieht kaum eine Hand vor Augen und weiß nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Dort werden diese Menschen mit unglaublichen Aufgaben konfrontiert. Jeder weiß, dass es unkontrollierbare Ängste gibt, die nachts besonders schnell zutage treten. Ebenso wie das, was man versucht zu bezwingen: Der grenzenlose Egoismus, die Verzweiflung, das Kreatürliche, was irgendwann zum Ausdruck kommt. Regisseurin Agnieszka Holland wollte die Opfer der Geschichte nicht als unfehlbare Gutmenschen zeigen, denn das sind sie sicher nicht gewesen.
Einige Aspekte – das Leben in wechselnden Verstecken und die Unterstützung der Untergetauchten durch nichtjüdische Polen – erinnern an Roman Polanskis „Der Pianist“. Was wird von „In Darkness“ haften bleiben?
Dieser Film konzentriert sich in erster Linie auf einen polnisch-katholischen Kanalarbeiter, der zu seinen Schützlingen kommt wie die Maria zum Kind. Es ist die Geschichte einer Versuchung, einer Weiche, auf der er immer wieder steht – eines Konfliktes, den Socha anfangs gar nicht erkennt: Zunächst hilft er, um Geld daraus zu schlagen.
In „Der Pianist“ schöpft die Hauptfigur ihren Überlebenswillen aus der Musik. Was hält Paulina und die anderen während der einjährigen Leidenszeit im unterirdischen Verlies am Leben?
Das Zusammensein und die Kinder haben diesen Menschen geholfen. Das ist der große Unterschied zu „Der Pianist“, dessen Protagonistführt fast ein eremitisches Dasein.
Der Film spielt überwiegend in nahezu völliger Dunkelheit. Was war das für eine Dreh-Erfahrung?
Anfangs haben wir mit einer Kamera gedreht, die viel mehr Licht brauchte als realistisch war. Einige Schauspieler sagten, für sie sei es schwierig, quasi nicht sehend spielen zu können, obwohl es taghell ist. Fortan drehten wir auf 35 Millimeter und benötigten weniger Helligkeit. Je realer der Raum in unserer hermetisch verschließbaren Studio-Box war, desto besser konnte man vergessen, dass es ein Draußen gab. Vor allem die Enge hat mir viel ausgemacht: 15 Meter unter die Erde zu steigen und Hunderte von Metern in das Kanalsystem hineinzulaufen. Die Panik, die eines der Mädchen befällt – es lässt sich lieber ins Lager bringen als da unten zu bleiben – kann ich nachvollziehen. Trotzdem dachte ich gerade in der Kanalisation: Das, was diese Menschen erleben mussten, kann ich mir nicht vorstellen. Für uns war das nie eine Frage von Leben und Tod. Wir haben das gespielt, aber nicht gelebt. Da gerät es an die Grenze des Spielbaren und des Darstellbaren.
Info: "In Darkness – Eine wahre Geschichte“ (Deutschland/ Kanada/ Polen 2011), Regie: Agnieszka Holland, Drehbuch: David F. Shamoon, mit Robert Wieckiewicz, Maria Schrader, Herbert Knaup, Benno Führmann, Agnieszka Grochowska u.a., 144 Minuten. http://www.indarkness-derfilm.de/
Kinostart: 09. Februar