Kultur

Der graue Engel

von ohne Autor · 5. September 2014
placeholder

Einer gegen das Kosten-Nutzen-Klischee: In traurig schönen Bildern und mit einem grandiosen Hauptdarsteller erzählt Uberto Pasolinis Tragikomödie „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ davon, wie sich ein Verwaltungsmitarbeiter für die Würde der Vergessenen aufopfert.

Schon nach wenigen Einstellungen ahnt man, dass die Strukturen, in denen sich John May in 22 Dienstjahren eingerichtet hat, nur noch von kurzer Dauer sein werden. Im Auftrag einer Londoner Bezirksverwaltung kümmert sich der Funeral Officer (in etwa: Bestattungsangestellter) um die Begräbnisse jener Menschen, die in völliger Einsamkeit ihr Leben ausgehaucht haben. Er organisiert die passende Musik für die Trauerfeier, schreibt die Trauerrede und sucht nach Hinterbliebenen. Und steht beim letzten Geleit dann doch als einziger am Grab, wie zu Beginn des Films bei verschiedenen Gelegenheiten zu beobachten ist.

In Zeiten von Spardruck, Evaluierungen und Qualitätsmanagement wirkt dieser Aufwand – traurig, aber wahr – aus der Zeit gefallen. Das gilt auch für das karge Büro, in dem John May seine Einsätze plant und akribisch in papiernen Listen dokumentiert. Hinter seinem Schreibtisch thronen ausladende Aktenschränke, der Computer scheint nur Staffage zu sein. Willkommen im Reich der Behörden-Hobbits! Muße findet er darin, Fotos aus den Wohnungen der Verstorbenen mitgehen zu lassen und in einem privaten Album zu sammeln. Als würde der Alleinstehende dadurch am vergangenen Leben anderer teilhaben. John May ist so einsam, wie zum Beispiel jene Frau, die ihrer Katze Postkarten schreibt und auch in deren Namen beantwortet. Unausgefüllt ist sein Dasein nicht.

Verborgenes Elend

Kein Zweifel: Dieser Mitarbeiter ist gründlich, aber eben auch teuer. Kein Wunder also, dass sein Vorgesetzter die Stelle streicht. Plötzlich steht John Mays Existenz auf dem Spiel. Und sein letzter Fall wird zum Wendepunkt seines Lebens. Dass er in die Begräbnisvorbereitungen für einen versoffenen Fallschirmveteranen so viel Energie investiert, hängt auch mit einem Erweckungserlebnis zusammen. Der Tote wurde in jenem Vorstadt-Wohnblock entdeckt, wo auch der Funeral Officer zuhause ist. Mag dieser sich auch rührend um die Toten kümmern: Das Elend der Lebenden blieb ihm bislang verborgen. Nun sucht er mit kriminalistischem Spürsinn nach den Angehörigen jenes Billy Stoke. Und entdeckt damit ein Denken, Fühlen und Erleben jenseits der Grenzen, die er selbst gezogen hat.

Die Weise, wie Regisseur, Autor und Produzent Uberto Pasolini („Ganz oder gar nicht“) einem Menschen, der sich unter dem Druck eines Zeitgeistes aus Rationalität, Effizienz und Anonymität um Menschlichkeit bemüht, ein Denkmal setzt, berührt zutiefst. Monatelang begleitete er die echten Londoner Funeral Officer bei ihrer Arbeit. Auch daraus zieht der Film seine Präzision bei Beobachtung und Ambiente. Bei den Filmfestspielen von Venedig wurde der Film in der Kategorie Beste Regie ausgezeichnet.

Die intensive Wirkung ist nicht zuletzt Hauptdarsteller Eddie Marsan zu verdanken. Er verleiht dieser auf den ersten Blick farblosen Figur einen Ausdruck, den man nicht vergisst. Vielen ist der 46-Jährige als cholerischer Fahrlehrer in Mike Leighs „Happy-Go-Lucky“ in Erinnerung geblieben. In seiner ersten Hauptrolle zieht der Mime ganz andere Register. Anfangs gibt er den Archetyp des unauffälligen Pedanten, ohne ihn zur Karikatur werden zu lassen: Schließlich verbirgt sich hinter der hyperkorrekten Fassade kein starrer Bürokrat, sondern ein mitfühlender Mensch. Sei es der bedächtige Schritt an der Ampelkreuzung, das Schälen eines Apfels oder das Decken des Abendbrottisches: Jede Regung dieses zunächst regungslos anmutenden Wesens – eingefangen in langen, unbewegten Einstellungen von Kameramann Stefano Falivene – sitzt mit der Präzision eines Stilllebens, was wiederum auf den doppeldeutigen Originaltitel („Still Life“) verweist.

Mehr Farbe

Je mehr sich John May in den Fall Billy Stoke vertieft, gewinnt er, wie auch der ganze Film, an Farbe. Dominierten anfangs blass Pastell-, Braun- und Grautöne die Szenerie, brechen sich nun kräftige Farben Bahn. Wir sehen John May sprichwörtlich in anderem Licht – und er sich selbst auch. Erst recht, als er die Tochter des mackerhaften Rüpels kennenlernt, die dieser einst im Stich gelassen hat. Seitdem ging auch Kelly (Joanne Frogatt) einsam durchs Leben. Nun scheint selbst für sie ein Neuanfang möglich.

Mag Uberto Pasolinis Film in der zweiten Hälfte auch in eher konventionelle Fahrwasser geraten: So ein sensibles und doch kraftvolles Plädoyer für Menschlichkeit, das sich obendrein durch einen leisen Humor auszeichnet, hat man selten erlebt. Die Endlichkeit drückt der Erzählung bis zum Schluss ihren Stempel auf. Doch manchmal tut Melancholie einfach gut.

Info:

Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit (GB/I 2012), ein Film von Uberto Pasolini, Kamera: Stefano Falivene, mit Eddie Marsan, Joanne Froggart u. a., 87 Minuten.

Ab sofort im Kino

0 Kommentare
Noch keine Kommentare