Günter Grass war Freund und kritischer Begleiter Willy Brandts. Davon zeugt ein mehr als 1000-seitiger Briefwechsel, aus dem am Mittwoch im Berliner Willy-Brandt-Haus gelesen, wurde. Bevor der Literaturnobelpreisträger Grass sich daran machte, mit Kanzlerkandidat Peer Steinbrück politische Entwicklungen zu diskutieren.
„...am Freitag nächster Woche spreche ich gemeinsam mit Helmut Schmidt im Sportpalast. Wenn Ihnen dazu etwas einfiele, würde ich das sehr zu schätzen wissen“, schreibt Willy Brandt 1965 an Grass. Er war damals Regierender Bürgermeister von Berlin. Grass hört die Rede im Sportpalast und ist nicht zufrieden: „Legen Sie es mir bitte nicht als Beckmesserei aus, wenn ich kritisch auf die verschwimmenden Satzenden in Ihrer Rede hinweise.“ So mischt Grass sich ein, gibt Ratschläge – und will politisch Einfluss nehmen.
Im November 1966 warnt Grass eindringlich vor der Großen Koalition, die im Dezember 1966 beschlossen wird. „Wie sollen wir weiterhin die SPD als Alternative verteidigen, wenn das Profil eines Willy Brandt im Proporz-Einerlei der Grossen Koalition nicht mehr zu erkennen sein wird?“ Nur zwei Tage später antwortet Brandt, verteidigt die Große Koalition weil „der andere Weg nicht gangbar war“. Er betont: „Dafür werden wir Verantwortung tragen und gerade das geistige Deutschland nicht enttäuschen.“ Brandt wird Außenminister, vier Jahre später ist er Bundeskanzler.
Intellektuelle Einmischer sind gefordert
Der Briefwechsel zeugt von einem regen Austausch. Er dokumentiert den Übergang vom Sie zum Du, von einem förmlichen zu einem freundschaftlichen Umgang. Die Schauspieler Burghardt Klaußner und Dieter Mann lesen eine knappe Stunde lang aus den Briefen. Gut 600 Besucher im Willy-Brandt-Haus verfolgen den schriftlichen Schlagabtausch zwischen dem Schriftsteller und dem Politiker.
Dann kommt der 85-jährige Grass auf die Bühne. Der Schriftsteller erinnert sich an die Bewunderung, die er für Brandt hegte. „Die musste ich überwinden, um ein kritischer Freund zu sein.“ Peer Steinbrück habe das Duo Brandt-Grass in den 1960ern deutlich gemacht, „dass das geistige Deutschland bereit war sich für die SPD zu engagieren“. Als der Moderator Wolfgang Thierse den Kanzlerkandidaten fragt, ob er sich einen kritischen Begleiter wie Grass wünsche, sagt Steinbrück: „Der Grass war ziemlich anstrengend.“ Dann wird er ernst, erklärt, dass er sich wünschte die Intellektuellen von heute würden sich einmischen und engagieren wie jene in den 1960ern und -70ern es taten.
Grass: Bundeswehr zur „Söldnerarmee“ verkommen
Steinbrück und Grass sind im Willy-Brandt-Haus nicht nur zusammen gekommen, um über die Vergangenheit zu sprechen. Es gibt viel, dass Grass an der gegenwärtigen Situation in Rage bringt. Etwa die Beziehung zu den deutschen Nachbarstaaten: „Was das Verhältnis zu unseren Nachbarn betrifft, haben wir gegenwärtig einen Tiefpunkt erreicht“, erklärt Grass und kritisiert Kanzlerin Angela Merkel. In Deutschland gebe es eine Schere zwischen Reichtum und Armut von nicht mehr zumutbarem Ausmaß.
Gerade hatte Steinbrück noch Einmischung gefordert, jetzt will Grass Engagement sehen: „Sie sind ein Meister darin, Ross und Reiter zu nennen“, sagt er zu Steinbrück. „Sagen Sie wer Schuld an dieser Entwicklung ist.“ Der Kanzlerkandidat sagt vor allem wie er die Schere schließen will: „Wir wollen einige Steuern für einige erhöhen“, erklärt er. Das Geld müsse massiv ins deutsche Bildungssystem investiert werden.
Außerdem betont Steinbrück an diesem Abend, an dem so viel über Willy Brandt geredet wird: „Willy Brandts Satz ‚Mehr Demokratie wagen’ gilt mehr denn je – auch für Europa.“ Die Europäische Union müsse demokratischer werden. Es gelte das Parlament aufzuwerten und den Bürgern mehr Mitbestimmungsrechte einzuräumen. Bei Grass läuft Steinbrück mit diesen Äußerungen offene Türen ein.
Doch der Schriftsteller schreckt vor Reibung mit Politikern nicht zurück. Als er erklärt, mit der Abschaffung der Wehrpflicht sei die Bundeswehr zu einer „Söldnerarmee“ verkommen, widerspricht Peer Steinbrück. „Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und das wird sie auch bleiben“, erklärt er. Sie handle mit politischem Mandat, Willkür von Söldnern müsse man nicht fürchten. „Meine Zweifel bleiben – zerstreuen Sie Sie“, erwidert Grass.
„Die Stunde der Sozialdemokratie ist angebrochen“
Am Ende des langen Abends sind die beiden wieder einig. Es geht um die Bundestagswahl am 22. September und der Wahlkämpfer Grass schaltet sich ein. „Eigentlich ist die Stunde der Sozialdemokratie angebrochen“, sagt der Schriftsteller. Alle Sozialdemokraten – Mitglieder und Nicht-Mitglieder der SPD – müssten andere ansprechen zur Wahl zu gehen. Peer Steinbrück blickt ins Publikum und sagt: „Ich entlasse Sie als Staatsbürgerinnen und -bürger nicht aus der Verantwortung sich politisch zu engagieren und wählen zu gehen“.
Willy Brandt/Günter Grass: „Der Briefwechsel“, herausgegeben von Martin Kölbel, Steidl Verlag, Göttingen 2013, 1230 Seiten, ISBN 978-3-86930-610-0
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.