„Der Glanz der Unsichtbaren“: Eine bittersüße Ode an die Kraft der Solidarität
Für ihre Schützlinge würde Audrey alles tun. Aber tut sie auch immer das Richtige? Seit Jahren rackert sich die Sozialarbeiterin in einem Begegnungszentrum für obdachlose Frauen ab. Nun sitzt sie mit einer von ihnen im Wohnzimmer einer alten Dame. Es geht darum, Chantal einen kleinen Job im Haushalt zu besorgen. Audreys ganze Hoffnung besteht darin, dass sich die nicht mehr ganz junge, wegen ihres bulligen Äußeren durchaus Respekt einflößende Frau gut präsentiert. Dabei will Chantal nur ehrlich sein. „Ich kann Elektrogeräte reparieren“, berichtet sie in ihrer schnörkellosen Art. „Das habe ich im Gefängnis gelernt. Außerdem habe ich meinen Mann umgebracht.“ Wieder einmal heißt es: auf ein Neues!
Zuwendung für die Schwächsten
Neu ist auch der Umstand, dass Audrey und ihre Kolleginnen für die Frauen, die tagtäglich die Anlaufstelle im nordfranzösischen Tourcoing besuchen, überhaupt eine berufliche Wiedereingliederung im Auge haben. Bislang ging es vor allem darum, ihnen mit niederschwelligen Angeboten wie einer warmen Dusche den Alltag zu erleichtern. Die meisten von ihnen leben auf der Straße oder in Zeltlagern. Das L'Envol ist der einzige Ort, wo ihnen jemand Wohlwollen und Zuwendung schenkt. Der Stadtverwaltung reicht das nicht. Der Vorwurf: Viel zu wenige der dort betreuten Frauen finden zurück in ein geordnetes Leben. „Ihr habt sie zu sehr verhätschelt“, tönt es in einem Meeting. Wie soll man da noch die hohen Fixkosten rechtfertigen?
Drei Monate bleiben Audrey und den anderen Zeit, die Erfolgsquote mittels Bewerbungstraining und Vorstellungsgesprächen nach oben zu treiben. Als obendrein auch noch Chantals Zeltlager geräumt wird und sie mit einer Reihe weiterer Schicksalsgenossinnen im Frauenzentrum einzieht, formt sich eine verschworene Gemeinschaft, die es am liebsten mit der ganzen Welt aufnehmen würde. Doch nicht jedem dieser Schützlinge gelingt es, das Leben in der Gosse hinter sich zu lassen.
Obdachlosigkeit von Frauen – ein gerne verdrängtes Thema
Die Sozialkomödie von Regisseur Louis-Julien Petit („Discount“) beleuchtet ein Thema, das große Teile der Gesellschaft gerne verdrängen: Obdachlosigkeit, vor allem unter Frauen. Einer Schätzung zufolge sind in Frankreich 40 Prozent der Menschen auf der Straße weiblich, in Deutschland sollen es 30 Prozent sein. Viele von ihnen outen sich nicht, meist aus Angst vor Gewalt oder aus Scham. So sind Chantal und die anderen im mehrfachen Sinne unsichtbar. Audrey und ihren Kolleginnen geht es ähnlich: Seitens der Bürokraten werden sie erst dann wahrgenommen, wenn die Zahlen nicht stimmen. Wen kümmern schon Überstunden und schlechte Bezahlung? Oder auch, wie im Fall von Audrey, das quasi nicht vorhandene Privatleben?
Doch „Der Glanz der Unsichtbaren“ buhlt weder um Mitleid oder Betroffenheit. Auch geht es nicht darum, soziales Elend zu verklären. Louis-Julien Petit will zeigen, was jene Kraft vermag, die aus jener Gemeinschaft im L'Envol erwächst. Um nicht zu sagen: die Kraft – oder auch der Glanz – jeder einzelnen Frau, die auf ihre Weise einiges durchgemacht hat. Das ist wohl auch als Kritik am heutzutage allgegenwärtigen Ich-Kult zu verstehen. Neben Chantal lernen wir einige weitere Persönlichkeiten kennen, die jede für sich schon einen Film wert wäre. Allesamt verbinden sie Träume und Humor, wovon Brigitte Macron, Beyoncé und andere von ihnen gewählte Spitznamen zeugen.
Zwischen Feelgood-Stimmung und schonungsloser Gesellschaftsstudie
Zugleich wird genügend Distanz gewahrt, um Chantal und Co. nicht bloßzustellen. Mit Mitteln der Komik wie auch der Tragik ergeben sich auf dem Weg der kollektiven Selbstbehauptung immer wieder überraschende Momente, die zum Lachen oder eben doch zur Betroffenheit, aber niemals zum Pessimismus verleiten.
Vor allem zu Beginn verströmt der Film durch sein raues Ambiente, insbesondere in der französischen Originalversion, geradezu dokumentarischen Charakter. Das liegt auch daran, dass „Der Glanz der Unsichtbaren“ an das Obdachlosen-Sachbuch „Sur La Route Des Invisibles“ von Claire Lajeunie angelehnt ist, die auch am Drehbuch mitgewirkt hat. Und doch formte Louis-Julien Petit aus diesem Stoff eine ganz eigene Geschichte zwischen Feelgood-Stimmung und schonungsloser Gesellschaftsstudie. Die besondere Wirkung dieses Werks, das mitunter an die bittersüßen Sozialkomödien von Ken Loach erinnert, liegt auch darin begründet, dass fast alle Obdachlosen von Frauen gespielt werden, die dieses Dasein selbst durchlebt haben. Oft genügt ein wortloser Blick, um Audrey Lamy und den weiteren Profis, die die Betreuerinnen spielen, die Show zu stehlen.
„Der Glanz der Unsichtbaren“ („Les Invisibles“, Frankreich 2019), ein Film von Louis-Julien Petit, mit Audrey Lamy, Corinne Masiero, Noémie Lvovsky, Déborah Lukumuena u.a., 102 Minuten. Jetzt im Kino.