Es ist über ein Jahrzehnt her, dass ich im Kasseler Staatstheater mit meinem Studienkollegen Dirk Eckart der Premiere des europäischen Tanzfestivals beiwohnte. In seiner Eröffnungsrede sagte der Staatsrepräsentant des britischen Königreichs eindeutig irritiert, wahrscheinlich auch verärgert, etwa: "Die Wahl sei nicht die des britischen Staates beziehungsweise der Regierung. Sondern die Jurymitglieder der Tanz- und Musikeinrichtungen Englands haben diese Entscheidung getroffen!" Aber er begrüße herzlich, gratulierend, die Tanztruppe und ihre Choreographin, deren Eltern aus Sri Lanka nach England emigrierten." Das stimmte jedoch nicht, und die junge, dynamische Frau regte sich nach der Aufführung über den Irrtum auf.
Sie korrigierte den Fehler des Staatsmannes im Foyer: Ihre Eltern kamen aus Südindien. Das Stück, ihre Komposition, war eine moderne, indisch-europäische Aufarbeitung einer altindischen Legende im indischen Tanzstil mit einigen Streichern. Also, schon mehr oder weniger indisch.
In Slumdog wird das unmittelbare Indien mit indischen Darstellern von einembritischen Filmemacher dargestellt. Wer solle da mit dem erweiternden Blickwinkel, der erweiternden Ästhetik Probleme haben?!
Zwei Oscars für den "beatlastigen", indischen Musikproduzenten Rahman
In den allerletzten, spannenden Abenden stellte das klassikradio.de sämtliche nominierten Filme aller Sparten vor. So wurde auch die Musik der besten sechs Nominierungen vorgestellt, und die
Hörer wurden gebeten, über ihre Favoriten abzustimmen. Ich wurde aufmerksam, als das indische Sozialmärchen mit dem Namen des indischen Musikgiganten vorkam. Die beiden "Herren" Moderatoren,
verkündigten einstimmig in ihrer ansprechenden jedoch souveränen Radiostimme ihre Meinung über die Musik des Inders: "Zu beatlastig!" Es wurden alle sechs Filmstücke der Reihe nach gesendet, und
es wurde telefonisch abgestimmt. Die Moderatoren teilten den Hörern das Resultat euphorisch mit, etwa: "Es gibt zwei klare Gewinner! Es gibt zwei, die klar in der Mitte sind! Und es gibt zwei
klare Verlierer!" Die Komposition des "beatlastigen" Inders befand sich im klaren Verliererbereich.
Meine Beweggründe für die Bewunderung des Rahman bestehen aus seiner
Genialität, und noch mehr aus seiner Persönlichkeit. Der mittelgroße Mann mit Megaidol-Status im indischen Subkontinent, der auf seine langjährige, emsige Laufbahn zurückblickt, tritt
äußerst einfach bei unzähligen Preisverleihungen auf, und er redet leise, wenig, dankend-rührend... Als Junge wuchs er in bescheidenen Verhältnissen auf, und sehr fleißig verfolgte er seine
musikalische Ausbildung in der ganzen Welt. Der mit Oscar preisgekrönte Song des Slumdogs, den der gläubige und praktizierende Muslim aus Südindien komponiert hat, lautet: "Jai Ho!!!" Es ist der
alltägliche Ausruf der Hindus und auch aller anderen gläubigen Inder zur Ehrung der Götter, Göttinnen ...des Allmächtigen, zum Beispiel: "Jai Ho Kali Mai Ki! Es gelte und bleibe nur die ewige,
immense Größe der Göttin Kali!"
Bollywood versus sozialkritsche Kinos
Die Zeitungen machten mich nochmals auf diese Kluft aufmerksam: Da die Inder hauptsächlich kitschige Bollywood-Filme mögen, konnte dieses sozialkritische Märchen aus den Slums Bombays nicht in großen Leinwandkinos gezeigt werden. Das stimmt auch - halbwegs, weil der Film durch und durch auch eine Bollywood-Produktion ist. Das wurde sogar bei der Preisverleihung in L.A. hervorgehoben, etwa: "...Damit werden auch zwei gigantische Filmgrößen der Welt geehrt, nämlich Bollywood und Hollywood." Die Darsteller sind die Stars aus Bollywood und die Bewohner des Mumbai-Slums. Und nicht zuletzt der Musikdirektor, der seit Jahren als Kaiser der zeitgenössischen Bollywoodmusik gilt. Jener, dessen "beatlastiger"-Song auch im klassikradio.de vom Moderator vorgestellt wurde.
Der fremde Blick auf das einheimische Elend
So wie nicht wenige Abendländer, haben manche Inder auch das Werk auf der Armutsebene ausgeschlachtet, und sie grübelten über ihre Variante der wichtigen Frage des Kulturkampfes nach, zum
Beispiel "Wollen die westlichen Zuschauer immer noch Indien bloß als "Slumdog" ansehen?" In seiner Rage schrieb der Bollywood-Megastar, Big B alias Amitabh Bachchan, in seinem Blog, "Wenn Slumdog
Millionaire Indien als ein unterentwickeltes Armutsland darstellen soll, sollte allen wohl bewusst sein, dass es gerade auch in den vielen entwickelten Ländern ausgehungerte, bettelarme Menschen
gibt." Hmm!
Es gab und gibt auf dem indischen Subkontinent ohne Diskontinuität immer Dutzende Filmemacher, die sozialkritische Filme und Dokus vordergründig für den Fernseher drehen. Unter ihnen ist
der Name "Satyajit Ray" berühmt. Der ebenfalls wohl bekannte kritische Filmemacher Shyam Benegal enthielt sich einer Pro- bzw. Kontra-Parteinahme und äußerte über den Regisseur bloß: "Danny ist
ein Ausländer, und es ist natürlich, dass er Indien wie ein Ausländer ahrnehmen wird." Hmm!
Könnte der fremde Blick den eigenen schärfen bzw. erweitern? Dass in wirtschaftlichen Miseren nicht selten auch mitreißende Kunstwerke entstehen, belegt die Geschichte wiederholt. Und warum
sollten nicht die Armen und die weniger Armen einen Film machen, der in der Lage ist, viele Menschen kultur- und generationsübergreifend zu bewegen - musikalisch, ästhetisch?
Anant Kumar ist ein deutschsprachiger Schriftsteller indischer Herkunft. Er verfasste 12 Bücher (Erzählungen, Essays, Gedichte, Satiren, Reportagen, Kinderbücher... Roman) Er
lebt und arbeitet in Kassel.