Kultur

Der digitale Brecht

von Vera Rosigkeit · 14. August 2006
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Bertolt Brecht starb am 14.08.1956 in Berlin. Ihm zu Ehren inszeniert Klaus-Maria Brandauer am Berliner Ensemble "Die drei Groschenoper" mit prominenter Besetzung. In den Feuilletons werden Brechts Werke gerühmt und seine Verdienste um die Schöpfung des "epischen Theaters" stilisiert. Seine politische Orientierung wird kritisch erwähnt und sein turbulentes Privatleben wird detektivisch beleuchtet. Mittlerweile sind diese Fakten Bestandteil der Allgemeinbildung. Weniger bekannt, dafür von hoher Aktualität ist seine "Radiotheorie". In Zeiten der "Podcast-Revolution" im Internet ergibt sich so die Möglichkeit, Bertolt Brecht von einer anderen Seite zu betrachten.

Brechts skeptische Beurteilung des Mitte der 20er Jahre eingeführten Radios

veranlasste ihn, über eine sinnvollere Verwendung der damals technisch

innovativsten Erfindung seit Einführung des Buchdrucks zu spekulieren. In

seinen Augen gab es kein gesellschaftliches Interesse an einem neuen

Massenmedium für bereits vorhandene Inhalte.

"Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm dran."

Noch schlimmer allerdings seien Zuhörer dran, die keinen finden der ihnen

etwas zu sagen hat, kommentierte Brecht ironisch die Einführung des Hörfunks.

Großartigster Kommunikationsapparat

Sein Vorschlag sah das Radio nicht als ein einseitig sendendes Medium,

sondern als ein Kommunikationsapparat. Alle Hörer sollten die Chance haben,

sich ebenfalls zu Themen zu äußern. Dann wäre der Rundfunk "der denkbar

großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens." Dieser

Vorschlag schien über Jahrzehnte nur eine theoretische Vision zu sein. In der

existierenden Medienwelt, in der es von Anfang an um Auflage und

Einschaltquote ging, hatte eine allgemeinnützige Idee keine Chance.

Auf wissenschaftlicher Ebene erlebte die Radiotheorie eine kurzzeitig

Renaissance in den 70er Jahren. Hans Magnus Enzensberger nutzte Brechts

Ideen als Grundlage für seinen emanzipatorischen Medienbaukasten.

In den 1990er Jahren setzte der Siegeszug der digitalen Medien ein. Vom

heimischen Schreibtisch aus konnte man sich von nun an weltweit in

Diskussionen einbringen. Von der selbstgestalteten Familienseite bis zum

Spartenforum waren die Partizipationsmöglichkeiten unbegrenzt.

Blogs, Wikis und Podcasts

Einen weiteren Evolutionsschritt setzte die Einführung des WEB 2.0. Dieser aus

dem Netz stammende Begriff umfaßte weniger die neuesten technischen

Entwicklungen, als vielmehr die kollektive Erkenntnis der Internetgemeinschaft.

Die Chance, Privates öffentlich zu machen, hat erstmals die technische

Voraussetzung gefunden und Nutzer haben die Möglichkeit, ihre Gedanken zu

allen erdenkliche Themen zu äußern.

Die Zauberworte dieser Bewegung sind Blog, Wiki oder Podcast.

Podcast sind kurze selbsterstellte Hörbeiträge, die vom Tagebuchcharakter bis

zur professionellen Kommentierung weltpolitischer Ereignisse reichen.

Angeboten werden diese Wortbeiträge auf sogenannten Blogs, persönliche

Internetseiten, die es ermöglichen minütlich allen alles mitzuteilen und durch

direkte Verlinkung im Text die Quellen des Wortbeitrags offen zu legen.

Auch Portale, wie youtube.com haben ausschließlich Videos von Amateuren auf

ihren Seiten. Der explosionsartige Erfolg dieser Angebote macht klar, dass der

Leser-Hörer-Zuschauer etwas mitzuteilen hat. Das nicht jeder Produzent mit

seinen Podcasts berühmt wird, versteht sich von selbst. Aber die Chance

öffentlich an Diskussionen teilzunehmen und seine Meinung darzustellen ist

nunmehr gegeben.

Was jahrzehntelang in kleinen alternativen Kreisen diskutiert wurde, ist durch

die digitale Revolution im Internet möglich geworden. Auch wenn Bertolt Brecht

keine abgeschlossene Theorie zum Thema Partizipation in den Massenmedien

vorgelegt hat, so erweisen sich seine fragmentarischen Äußerungen im

Nachhinein als visionär.

Sebastian Henneke

Foto: Cover des Buches "O Chicago! O Widerspruch!" Hundert Gedichte auf

Brecht. Transit Verlag. 2006.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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