Das Politische und das Theater. Diese schwierige Liebesbeziehung ist so alt wie das Theater selbst. Denn als Anstalt zur Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten kam es einst auf die Welt und etablierte damit einen schwindelerregenden Anspruch, der das Schau-Spielen bis heute wie ein Schatten verfolgt. Womöglich ist die Theatergeschichte nichts als der Traum von der Heimkehr zu jener segensreichen Geburtsstunde in der Antike. Einerseits.
Andererseits gilt dezidiert politisches Theater heute vielen als Anachronismus, jedenfalls dann, wenn das Theater als der verlängerte Arm einer bestimmten politischen Überzeugung dienen
soll. Diese Ablehnung äußert sich vor allem im allgemein gewordenen Glauben, demzufolge ein globalisierter Kapitalismus keine Alternative dulde. Auch wenn die derzeitige Weltwirtschaftskrise
diesem Glauben erhebliche Schäden zufügt.
Politisches Theater als Plädoyer für ein Außerhalb, ein Anderes dieses Systems gilt dann als eine zwar hübsche, aber naive Illusion, die böse von den Realitäten geweckt wird. Politisches
Theater, das war einmal.
Der mündige Zuschauer
Und dennoch ist unübersehbar, dass politisch motivierte Theaterabende und Bühnenprojekte im Gegenwartstheater Konjunktur haben. Politisch sind diese Ansätze nicht, indem sie für eine bestimmte Politik und also für einen bestimmten Inhalt kämpfen, sondern in ihrer ästhetischen Form, die in politischen Inhalten eben nie bruchlos aufgeht. Schon allein deshalb, weil Kunst nie auf ihre inhaltlichen Aussagen reduziert werden kann.
Zum Kunstwerk wird etwas einzig durch die Art und Weise, wie es etwas sagt. Politisches Theater ist keine Bebilderung von Parteiprogrammen, sondern streitet für den mündigen und insofern
politisch aufgeklärten Zuschauer. In diesem Sinne ist der Regisseur Volker Lösch einer der derzeit profiliertesten, aber auch umstrittensten Vertreter eines politischen Theaters.
Auf die Frage, worin der Auftrag des Theaters bestehe, gibt er die eindeutige Antwort "in der Irritation". Ihre Aufgabe ist, so der 46-jährige Regisseur, die inneren Widersprüche unserer
auf Ungerechtigkeit und Ausbeutung beruhenden Gesellschaft aufzudecken. Diesem Aufdecken hat Lösch seine Theaterarbeit gewidmet. Sie speist sich aus der Wut auf all jene heimlichen Übereinkünfte,
die tagtäglich bestätigt statt hinterfragt werden. Politisch ist sie, weil dieses Aufdecken den Zuschauer zur Positionierung herausfordert. In diesem Sinne ist es konsequent, dass Lösch
provoziert: Provokation zwingt zum Nachdenken.
Volker Lösch feiert immer wieder beachtliche Erfolge. Denn regelmäßig gelingt es dem ausgebildeten Schauspieler, Publikum und Presse zum Einspruch anzustacheln, nicht einfach durch die
Inhalte, die er verhandelt, sondern durch seine spezifische Theater-Form: den Chor. Löschs Chöre sind immer aus Laien gebildet. Egal, ob er am Schauspiel Stuttgart arbeitet - wo er seit 2006
Hausregisseur ist, am Staatschauspiel Dresden oder am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, stets sucht er sich seine Choristen in der jeweiligen Stadt. Oft gibt er ihnen Fragebögen zu ihren
aktuellen Lebensumständen, um zu erfahren, was sie denken, wie sie fühlen. Aus den Antworten entsteht während der Proben ein Text, der in die Inszenierung einfließt. Jedes Mal entwickelt Lösch
seine Inszenierung also für eine Stadt, greift lokale Themen und Konflikte auf. "Dogville" nach dem Film Lars von Triers, 2005 in Stuttgart, reagierte auf Stuttgart als Chorstadt und
Daimler-Sitz; sein Dresdner "Woyzeck" von 2007 verhandelte das Erstarken der Neonazi-Szene in Sachsen. Seine Textcollage "Die Wunde Dresden" im Februar 2009 thematisierte den heimlichen
Dresdner Stolz auf die 1945 "am schlimmsten bombardierte Stadt".
Fast immer wühlt er so Verdrängtes und Unliebsames an die Oberfläche. Mit seinen Laien holt er sich nicht nur die Stimmen der Armen und Unterdrückten auf die Bühne, sondern zeigt auch,
wohin eine ungerecht eingerichtete Gesellschaft führt: zu Hass, Gewalt, innerem Zerfall der Gemeinschaft. Lösch ist immer auch Mahner, Warner und also Unruhestifter.
»Weg mit den Börsenheinis«
Als er 2004 in Dresden Gerhart Hauptmanns "Die Weber" herausbrachte, rollte eine Welle der Entrüstung durch die Medien, weil Lösch auf der Bühne einen Chor von Dresdner Bürgern versammelte,
der aussprach, was sie denken. Es waren teilweise sehr unschöne, mit Ressentiments und Irrationalismen beladene Dinge.
Im Anschluss an seine zum diesjährigen Berliner Theatertreffen geladene Hamburger Inszenierung "Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?" war wieder von einem Lösch-Skandal die Rede, weil er nach Peter Weiss' berühmtem "Marat/Sade"-Stück den Populisten Marat als Lenin und Lafontaine und an den brenzligen Stellen immer einen Chor auftreten ließ, der aus 24 armen Hamburgern bestand. Sie riefen "Weg mit den Börsenheinis" und "Hamburg soll brennen", und verlasen die Liste der 28 superreichen Hamburger inklusive Anschrift und Kontostand, die das "Manager Magazin" veröffentlicht hatte.
Die ganze Stärke dieses Theaters steckt in seiner Unabweisbarkeit. Es ist ein vorsätzlich vergröberndes Aufrütteltheater, das zwar immer ein bisschen falsch, weil vereinfachend ist, aber
nie so falsch vereinfachend, dass es nicht die wunden Punkte unserer Gesellschaft träfe. Es kitzelt und provoziert die Schlüsselreize seiner Zuschauer; das jedoch in aller chorischen Formstrenge.
Nie lässt es geschmäcklerisches Abwägen zu.
Das ist seine politische Kraft. Denn Politik im Theater heißt, die unausgesprochenen Übereinkünfte nicht nur thematisch aufzudröseln, sondern als Übereinkünfte zu entlarven. Natürlich birgt dieses Theater unübersehbare Gefahren. Sie liegen vor allem in missverstandenen Provokationen, missverständlich, weil sie an Oberflächenreize andocken und von den politischen Kernfragen nach der Verfasstheit unserer Demokratie ablenken.
Dirk Pilz, geboren 1972, ist Theaterkritiker u.a. für die "Berliner Zeitung" und die "Neue Zürcher Zeitung", sowie Mitbegründer des ersten Online-Theaterfeuilletons »nachtkritik.de«, für
das er regelmäßig schreibt. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und lebt in Berlin.
Dieser Artikel erscheint in der neuesten Ausgabe des vorwärts - ab den Samstag, den 25. April 2009 am Kiosk. Der "vorwärts" verlost jeweils zwei Tickets für die Aufführungen von "Marat, was ist aus unserer Revolution geworden" in Berlin am 18. Mai 2009 und in Hamburg am 9. Juni 2009. Schreiben Sie eine Email an: redaktion@vorwaerts.de mit dem Stichwort "Lösch". Einsendeschluss ist der 11. Mai 2009.