Der alte Mann und das Wort
Enzensberger bestimmt selbst das Thema der Beiträge zu seinem 85. Geburtstag: Er legt ein neues Buch vor. „Tumult“ heißt es und ist ein sehr persönlicher Rückblick in die 1960er Jahre. Doch es sind keine Memoiren im klassischen Sinne, sondern ist eine Art Collage. Zwei Archivare aus Marbach haben in Enzensbergers Keller bei der Durchsicht von dort gelagertem Material seine Notizen aus den 1960ern zutage gefördert, erzählt Enzensberger. Als er sich damit beschäftigt, ist er überrascht. „Der Mensch war mir fremd“, so Enzensberger. „Dieses Ich war ein anderer.“
Um sich diesem früheren Ich zu nähern, eröffnet der fast 85-jährige Enzensberger den Dialog mit dem knapp 40-jährigen Enzensberger von damals. „Mein Lieber, was hast du dir bei alldem gedacht?“, lautete die Frage, auf die die Notizen Antworten geben sollen. Hinterher ist man immer klüger, das weiß Enzensberger. Und weil er nichts im Nachhinein beschönigen will, stützt er sich auf die alten Notizen und damit auf die subjektive Wahrnehmung des jungen Enzensberger.
Büchner-Preisträger und 68er
Der war kein Anführer der Studentenbewegung und doch eine zentrale Figur. Von 1965 bis 1975 war er Herausgeber des „Kursbuchs“, einer der wichtigsten Zeitschriften der linken Intelligenz und der Außerparlamentarischen Opposition. Er nimmt an Aktionen der Kommune 1 teil, in der sein jüngster Bruder damals lebt. Er bereist Russland und lebt auf Kuba, um den Sozialismus zu erleben, von dem er später sagen wird, dass er nicht funktioniert. Mit „Tumult“ stilisiert Enzensberger sich nicht zum Helden und das ist das Schöne daran. Es ist nicht der selbstgerechte Rückblick eines alten Mannes, sondern ein spannender Einblick in die politischen 60er Jahre.
Enzensberger ist Jahrgang 1929, genau wie der Philosoph Jürgen Habermas oder die verstorbene Schriftstellerin Christa Wolf. Er ist Teil der Generation, welche die NS-Zeit als Jugendliche – Enzensberger wurde 1944 zum Volkssturm eingezogen – genauso miterlebt hat wie Aufbau und Zusammenbruch der DDR sowie die deutsche Wiedervereinigung. Als Teil der 68er-Bewegung wollte er die Bundesrepublik vom Mief der Adenauer-Ära befreien und die NS-Vergangenheit diskutieren. Seine Waffe ist das Wort.
„Der große Nachhilfelehrer Deutschlands“
Enzensberger gehörte zu den Schriftsteller der legendären „Gruppe 47“. Sein erster Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“ erschien 1957. Dem politischen Gedicht verhilft er zu neuen Ehren. Den Büchner-Preis erhält er 1963. Enzensberger ist ein öffentlicher Intellektueller, ein Einmischer im besten Sinne.
Er ist als Lyriker, als Essayist, als Medientheoretiker, als Redakteur und als Herausgeber in Erscheinung getreten. Flink im Denken und nie ganz fassbar sträubt er sich gegen alle einfachen Wahrheiten. Fehler gesteht er ein. So hatte er erst den Angriffskrieg gegen den Irak begrüßt und sieht das heute anders. „Man macht also Fehler. Man kann sie aber auch zugeben. Das ist nicht so schwer“, erklärte er kürzlich im Interview mit dem „Spiegel“. „Die Zeit“ hat Enzensberger 2009 als „großen Nachhilfelehrer Deutschlands nach 1945“ bezeichnet. SPD-Chef Sigmar Gabriel erklärt zum 85. Geburtstag, Enzensberger habe „die Debatten unseres Landes immer wieder entscheidend mitgeprägt“.
Info
Hans Magnus Enzensberger: „Tumult“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 287 Seiten, 21,95 Euro, ISBN 978-3-518-42464-3
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.