Kultur

„Das wird mich ein Leben lang begleiten“

Angela Marquardt wurde 2002 mit ihrer Stasi-Akte konfrontiert. Sie war 30 Jahre alt und der Jungstar der PDS, als man ihr vorwarf, als Jugendliche ein Stasi-Spitzel gewesen zu sein. Inzwischen ist sie SPD-Politikerin und hat ein Buch über die Vorwürfe geschrieben, in dem sie erzählt, wie sie benutzt und missbraucht wurde. Es ist ihre persönliche Geschichte und doch kein Einzelschicksal.
von Birgit Güll · 21. April 2015
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vorwärts: Sie waren 30 Jahre alt, als Sie mit Ihrer Stasi-Akte konfrontiert wurden. 13 Jahre später haben Sie nun ein Buch darüber geschrieben, in dem sie viel Privates preisgeben. Warum?

Angela Marquardt: Ich habe seit 2002 immer mit der Angst gelebt, dass ich mit dieser Akte bzw. mit dem Thema, dass ich ein Stasi-Spitzel gewesen sein soll, wieder öffentlich konfrontiert werde. Ich bin nach wie vor politisch aktiv, organisiere rot-rot-grün Kreise mit und hatte Angst, dass die Akte auch politisch instrumentalisiert wird. Dem wollte ich offensiv entgegentreten und die ganze Geschichte erzählen. Meine Familienverhältnisse sind der Ausgangspunkt dafür, wie bestimmte Sachen in meinem Leben gelaufen sind. Das wollte ich offen schildern. Für mich war das der beste Weg, ehrlich damit umzugehen.

Sie beschreiben, dass sie keine Ahnung hatten, dass die Freunde Ihrer Eltern Stasi-Mitarbeiter waren.

Meine Eltern hatten Kontakte zur Staatssicherheit. Diese Leute sind seit meinem 9. oder 10. Lebensjahr bei uns ein- und ausgegangen. Ich kannte sie aber nicht als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) oder Stasi-Leute, sondern beim Namen. Das heißt von frühester Kindheit an habe ich diese Leute im Alltag erlebt, habe mich mit ihnen unterhalten. Wenn sie mich etwas gefragt haben, habe ich geantwortet. Ich habe diese Freunde meiner Eltern nicht hinterfragt, ich glaube das macht niemand mit 11, 12 oder 13 Jahren.

Sie kannten nicht mal das Wort „Stasi“...

Ich bin in meinem Umfeld nicht mit Geschichten über die Stasi konfrontiert worden. Zuhause nicht und in der Schule auch nicht. Ich bin in die Russischklasse gegangen. Die Eltern meiner zwei besten Freunde haben für das MfS gearbeitet, für mich war das ein normaler Arbeitgeber. Den Begriff Stasi kannte ich nicht. Ich habe nicht gewusst, was sie den Menschen antat. Eine meiner besten Freundinnen ist im Kirchenumfeld groß geworden. Sie ist genauso alt wie ich und wenn wir beide über die DDR reden, dann ist es, als wären wir in zwei unterschiedlichen Ländern groß geworden. Meine beste Freundin ist von klein an vor den Leuten gewarnt worden, auf deren Schoß ich groß geworden bin.

Sie können sich bis heute nicht daran erinnern, wie Sie als 15-Jährige die Erklärung unterschrieben haben, die sie zur Zusammenarbeit mit der Stasi verpflichtet hat. Wie erklären Sie sich das?

Es ist für mich auch ein Stück weit skurril, dass ich das nicht erinnere. In dem Buch beschreibe ich, dass ich im Frühjahr 1987 sehr intensiv darum gerungen habe, in Greifswald bleiben zu dürfen, als meine Eltern weggezogen sind. In diesem Zeitraum habe ich die Verpflichtungserklärung geschrieben. Zu erreichen, dass ich in Greifswald bleiben kann, war damals für mich sehr viel bedeutender als dieser Zettel. Es wird Menschen geben, die mir das glauben und welche, die das nicht tun. Ich habe mich in diesem Buch so geöffnet. Könnte ich mich erinnern, hätte ich auch das geschrieben.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass Ihr leiblicher Vater gewalttätig war. Ihr Stiefvater hat sie sexuell missbraucht. Es muss viel Überwindung gekostet haben das öffentlich zu machen. Warum haben Sie sich dazu entschieden?

Ich habe lange, lange mit mir gerungen, ob ich das in das Buch aufnehme. Wer steht gerne mit so was in der Öffentlichkeit? Aber es ist für mich ein Schlüssel zu meinem Verhalten damals und ich wollte nicht wieder die halbe Geschichte erzählen. Diese Leute, von denen ich später erfahren musste, dass sie Führungsoffiziere waren, haben mir in einer schwierigen Situation suggeriert: Mit uns an Deiner Seite kann Dir nichts passieren. Sie haben mir nicht wehgetan und sie haben mich ernst genommen. Ich habe denen mein Herz entgegengeschleudert. Ich wollte Ihnen vertrauen. Später hat sich herausgestellt, dass sie mich auf eine weitere Art benutzt und missbraucht haben.

Als Ihre Vergangenheit Sie vor 13 Jahren eingeholt hat, wurden Sie öffentlich an den Pranger gestellt. Ist Ihr Buch der erhoffte Befreiungsschlag?

Ja. Ich bereue diesen Schritt nicht. Ich habe in den letzten Wochen sehr viel Respekt und Zuspruch bekommen. Ich bin nach wie vor auch unsicher, weil es ein sehr offenes Buch ist. Aber ich habe diesen Schritt noch keine Minute bereut. Zudem wirft das Buch einen Blick auf einen Bereich dieses Unrechtsstaats, der meines Erachtens bis dato unterbeleuchtet war: auf Kinder und Jugendliche und deren Missbrauch das MfS. Und das ist vor allem mein Thema.

Sie haben für Ihr Buch Diplomarbeiten über minderjährige IMs gelesen, Experten befragt. Hat Ihnen das geholfen, zu verstehen?

Die DDR hat immer noch Konsequenzen für das Leben von Menschen – sowohl für die Opfer, etwa jene die im Knast saßen, als auch für Leute wie mich. Ich will darüber aufklären, dass die Stasi auf 11-, 12-, 13-Jährige zugegangen ist und versucht hat, sie als IMs zu rekrutieren. Ihre Akten sind heute unter Verschluss und niemand muss sich rechtfertigen – zu Recht. Aber diese Kinder – das kann ich aus eigener Erfahrung sagen – quälen sich bis heute. Ich weiß, dass ich für viele Dinge keine Verantwortung habe und möchte doch Verantwortung übernehmen. Irgendwann saß ja nicht mehr am Küchentisch meiner Eltern. Das wird mich ein ganzes Leben lang begleiten und so wird es auch den anderen gehen. Auch deshalb war der Schritt an die Öffentlichkeit wichtig. Und ganz ehrlich: Lieber gehe ich mit dem Buch in eine Schulklasse als in eine Talkshow. Diese Aufklärung ist mir wichtig, weil es mir zu viele Menschen gibt, die das Kapitel DDR abschließen wollen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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