Es gibt viele Familiensagen, aber nicht jede ist eine sagenhafte. Manchmal blättert der einstige Glanz am Nachwuchs ab wie spröde Farbe. Übrig bleibt nur das Schweigen über die glorreichen
Vorfahren. Natürlich kann es auch umgekehrt sein, dass die Söhne oder Töchter eine gesellschaftliche Stellung und Anerkennung erreichen können, die ihren Vätern und Müttern verwehrt wurde.
Immerhin sind Familien, wie man sie auch definieren mag, ein unverzichtbarer Bestandteil der Gesellschaft.
Allein schon wegen der Identitätsstiftung entsteht mehr als ein loser Bund. Dieser ist häufig nicht nur genealogischer, sondern auch beruflicher Natur. Mehrere Generationen in einer Familie
teilen Erfahrungen, die sie dann tradieren. Diese zusammenhaltenden Kräfte sind ein wunderbarer Ausgangspunkt für einen Roman. Reinhard Stöckel zeigt in seinem Erstlingswerk "Der Lavagänger" am
Beispiel einer Eisenbahnfamilie, wie dies funktioniert.
Spiegel des Lebens
Schnittstelle der Familiengeschichte ist im wahrsten Sinne des Wortes der Flecken Krahnsdorf-Brandt, irgendwo in Brandenburg. Dort laufen nicht nur die wichtigsten Erzählstränge zusammen,
sondern kreuzen sich auch wichtige Eisenbahnverbindungen. Die Provinz ist Anker, besser: Anfang- und Ausgangspunkt so mancher Anekdote, die die Familienrealität erst begründet.
Hier nimmt das Epos seinen Lauf. Zwei Personen treten hervor: der Fahrplankoordinator Henri Helder und sein Großvater Hans Kaspar Brügg, nach der unehrenhaften Entlassung aus der
osmanischen Armee in jungen Jahren Bahnstreckenkontrolleur der anatolischen Eisenbahngesellschaft. Die Stürme der Geschichte verschlagen letzteren ins ferne, fremde Hawai. Auf heißen Lavaströmen
erkennt er beim Anblick eines Kindes sein eigenes Ich und schreibt in seinen Notizen: "In diesem Gesicht, so fremd es auch war, erkannte ich mich selbst. Ich sah in einen Spiegel, der sich
plötzlich hinter allen Spiegeln meines bisherigen Lebens zeigte. Jene erschienen mir in diesem Moment wie trübe Teiche, dieses aber als ein Meer. Ein Meer wie ein fremdes Gesicht, wie das Gesicht
dieses Kindes. Ein anderes Ich. Mein verlorenes Ich, mein Zuhause." Der philosophische Grundgedanke "Erkenne dich im anderen" wird hierbei eingelöst: So wie sich Hans Kaspar in einem fremden Kind
entdeckt, kreuzt sich in den Naturgewalten Hawaiis schließlich Henris Schicksal mit dem seines Großvaters.
Verschlungene Fährten
Hans Kaspar Brüggs Mythos als Lavagänger ist am Ende seines Lebens geboren. Ein auf heißem Grunde lebensrettender Alltagsgegenstand überlebt ihn auf wundersame Weise: seine Schuhe, mit
denen er durch die Welt streifte, die ihm viel bedeuteten - der Leser erfährt es peu à peu - und als Erbstück den Enkel erreichen. Ohne die Schuhe hätte Henri Helder die Spurensuche zu seinem
Großvater nicht aufnehmen können. Der Enkel verfolgt die verschlungenen Fährten des längst Verstorbenen. Seine Reise in die Vergangenheit, die ihn schließlich bis nach Hawaii führt, ist ein
außergewöhnlicher Bildungs-Weg.
Sein Vater, der Fahrkartenverkäufer Bertram Helder, ist in der Isoliertheit der Provinz alles andere als eine Heldenfigur. Von ihm ist wenig zu erfahren, denn er verschließt sich den
Abenteuern seiner Vor- und Nachfahren. Ein paar "familiengeschichtliche Auskünfte" erhält Henri gerade einmal von der lebenslustigen Tante Erdmuthe.
Höhenflüge und Tiefschläge
Mit der Lebensgeschichte Hans Kaspars, der eingangs in Anspielung an Kaspar Hauser als uneheliches Waisen- und Findelkind am Bahnhof Krahnsdorf-Brandt gefunden wird, wird zugleich
Kolonialgeschichte erzählt. Höhenflüge und Tiefschläge sind nah beisammen. Stöckel berichtet hier besonders ausführlich über die Bagdadbahn, für deren Bau sich Hans' "kriegsunlustiger" Vater Arno
freiwillig gemeldet hat. Der Leser erfährt, dass Hans im 1915 seinen Vater auf der Baustelle nicht nur vom Gleis, sondern auch aus dem Leben wirft. Das Leben von Vater und Sohn ist schicksalhaft
mit Eisenbahngeschichte verbunden, die allerdings immer weiter auf Abwege gerät. Hans Kasper schwimmt in seiner persönlichen Saga durch die Geschichte wie ein orientierungsloser Fisch in den
Tiefen des Ozeans: Er gehört zu den deutschen Kollaborateure bei Deportationen von Armeniern , wird 1940 nach Australien verschleppt, als auch deutsche Flüchtlinge nach der Kapitulation
Frankreichs im 2. Weltkrieg als enemy aliens angesehen wurden. Sein Enkel versucht, Licht in das Vergangene zu bringen. Dabei kommt ihm mancher Zufall zu Hilfe. Er taucht buchstäblich in die
Geschichte ab.
Lakonisch erzählt Reinhard Stöckel diese Familiengeschichte, die mit all ihren Ironien so ganz und gar kein bürgerliches Ensemble ist. Der fiktive Stammbaum auf den beiden letzten Seiten
verdeutlicht das komplizierte Konstrukt. Es ist wahre Kunst, einen Text zu schmieden, der ohne längere biographische Ausflüge auskommt und sich doch über sechs Generationen erstreckt. Schillernde
Facetten sind manches Mal in nicht mehr als einem kurzen Absatz skizziert. Sagenhafter Abenteuerroman und Familiensaga, eine Neuauflage des Kaspar-Hauser-Stoffs und zugleich ein Stück deutscher
Eisenbahngeschichte - der Roman vereint alles in einem. Und das sehr lesenswert!
Thomas Edeling
Reinhard Stöckel: Der Lavagänger. Roman, Aufbau Verlag, 2009, 19,95 Euro, ISBN 978-3-351-03244-9
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Thomas Edeling ist Doktorand an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, Musiker, Wanderer und Literat