Kultur

Das Volk bestimmt

von Kai Doering · 25. April 2013

Vor 39 Jahren begann in Portugal die „Nelkenrevolution“. Sie beendete nach 48 Jahren die faschistische Diktatur. Ein Buch und zwei Filme fassen die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven zusammen.

Der Auslöser war ein Lied. Um kurz vor halb eins in der Nacht erklangen im portugiesischen Rundfunk die Strophen von „Grândola, Vila Morena“ (Grândola, braungebrannte Stadt) des Liedermachers José Afonso. Die rund 400 Offiziere der „Bewegung der Streitkräfte“ hatten nur darauf gewartet, war es doch das vereinbarte Signal zum bewaffneten Aufstand gegen das Regime von Marcelo Caetano. Knapp 18 Stunden später war die älteste faschistische Diktatur Europas nach 48 Jahren Geschichte.

Die Ereignisse vom 25. April 1974 sind heute als „Nelkenrevolution“ bekannt. Denn als die Soldaten in die Lissabonner Innenstadt zogen, um die Macht zu übernehmen, säumten zehntausende Menschen die Straßen – und das, obwohl das Militär eine Ausgangssperre verhängt hatte. Um ihre Freude über das Ende der Diktatur auszudrücken, schmückten Blumenverkäuferinnen die Soldaten, indem sie rote Nelken in ihre Gewehrläufe steckten. Der Schulterschluss zwischen Armee und Volk war gelungen.

Bibliothek des Widerstands

Anschaulich erzählt dies der Film „Viva Portugal!“, der von gleich vier Regisseuren in den Jahren 1974 und 1975 gedreht wurde. Er zeigt in Originalaufnahmen wie sich Soldaten, Arbeiter und etwas später auch die Landbevölkerung zusammenschlossen, um die Revolution zu einer Sache des portugiesischen Volkes zu machen.

„Viva Portugal!“ ist neben einem weiteren Film mit dem Titel „Scenes from the Class Struggle in Portugal“ Teil des Buchs „25. April 1974 – Die Nelkenrevolution“, das als 15. Band in der „Bibliothek des Widerstands“ erschienen ist. Der Laika-Verlag will mit der Reihe „in 100 Ausgaben die weltweit wichtigsten politischen Kämpfe und sozialen Bewegungen seit Mitte der sechziger Jahre dokumentieren“. Ein umfangreiches Buch ergänzen dabei bis zu drei Dokumentarfilme.

Die letzte soziale Revolution in Westeuropa

Für die Nelkenrevolution geht dieses Konzept voll auf. Auf gut 300 Seiten legen portugiesische und südamerikanische Historiker und Politikwissenschaftler dar, wie es zu den Ereignissen rund um den 25. April 1974 kommen konnte und was aus den Plänen der Aufrührer wurde. „Die portugiesische Revolution überraschte“, stellt die Historikerin Raquel Varela gleich in der Einleitung fest. „Sie überraschte angesichts der Rolle des Militärs, der Radikalität der Methoden und Ziele, der kaum vorhandenen Gewalt, mit der sie durchgeführt wurde und endete.“

„Die portugiesische Revolution war die letzte soziale Revolution in Westeuropa am Ende des 20. Jahrhunderts“, stellt Varelas Kollege Valério Arcary fest und vergleicht die Situation mit der Lage in Russland im Jahr 1917: „In Portugal kam es, wie 1917 in Russland, zum Ausbruch des politischen Revolutionsprozesses, weil das Heer durch den Krieg gezeichnet war.“

„Der Krieg“ war die jahrzehntelange Auseinandersetzung Portugals mit seinen Kolonien in Afrika und Südamerika, die das Land langsam ausbluten und ermüden ließ. Die Zusammenhänge stellt Dalila Cabrita Mateus in ihrem Beitrag „Der Kolonialkrieg und der 25. April“ dar. So ist es kein Wunder, dass eine der Hauptforderungen der Revolutionäre „sofortiges Ende des Kolonialkriegs“ lautete, inklusive einer Generalamnestie für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Es sollte freilich trotz der Machtübernahme durch den stellvertretenden portugiesischen Generalstabschef Spínola noch bis Ende 1975 dauern, ehe alle Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen wurden.

Rückkehr eines Liedes

Das Buch fasst die Ereignisse rund um den 25. April 1974 aus unterschiedlichen Perspektiven (Rolle der Banken, die Agrarreform, die Pläne der extremen Linken) zusammen. Die Autoren vertreten einen wissenschaftlichen Anspruch. Wer leichte Lektüre erwartet, wird daher enttäuscht werden. Doch wer fundiertes Wissen sucht, für den ist der Band genau das Richtige. Zudem veranschaulichen die beiden Filme mithilfe vieler Originalaufnahmen aus dem portugiesischen Staatsfernsehen die Situation von vor 39 Jahren. Sie machen das Buch zu einem wahren Schatz für zeitgeschichtlich und politisch Interessierte.

Nicht zuletzt können Buch und  Filme helfen, die aktuellen Vorgänge in Portugal besser zu verstehen. Dort feiert „Grândola, Vila Morena“, das Lied, mit dem die Revolution 1974 ihren Anfang nahm, dieser Tage eine Renaissance. Als Ministerpräsident Pedro Passos Coelho im Februar im Parlament seine Sparpläne für die Krise vorstellen wollte, sangen es rund 30 Menschen auf der Zuschauertribüne. Seither wird das einst verbotene Lied bei nahezu allen Demonstrationen gegen den Sparkurs der Regierung gesungen. Schließlich heißt es in einer Strophe: „Es ist das Volk, das bestimmt, was geschieht.“ Vor 39 Jahren hat sich dieser Satz bewahrheitet.

Willi Baer, Karl-Heinz Dellwo: 25. April 1974 - Die Nelkenrevolution, Laika-Verlag 2012, ISBN: 978-3-942281-85-0, 24,90 Euro

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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