Kultur

Das Tor zu einer anderen Welt

von Die Redaktion · 28. November 2005

Jirina Siklova ist ehemalige Oppositionelle. Sie organisierte in den 70er Jahren die Westkontakte der tschechoslowakischen "Charta 77", einer 1977 ins Leben gerufenen Bürgerrechtsbewegung. Nach 1989 gründete Frau Siklova das Institut für Gender Studies in Prag und engagiert sich heute in der Menschenrechtsorganisation "Helsinki Watch". Sie ist eine der 16 Interviewten aus vier Neu-EU-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn). Ihre Gesprächsthemen reichen von den Anfängen der Arbeiterbewegung, die es in jedem der Staaten gab, über Solidarnosc bzw. die Charta 77 bis hin zum Zusammenbruch des Sozialismus und zu den ersten demokratische Oppositionen. Höhepunkt und Ende der Interviews bildet der Beitritt des jeweiligen Landes zur Europäischen Union. Für Jirina Siklova ist dabei ein ganz entscheidendes Moment, dass die EU das Symbol des Friedens ist. In der Mitte Europas habe es seit 50 Jahren keinen Krieg mehr gegeben.

Wie aber sind nun die Utopien von damals zur Realität von heute geworden? Gab es überhaupt Utopien der Freiheit? Der polnische Historiker Karol Modzelewski verneint das: "Es gab keine konkrete Utopie", sondern lediglich die Werte des realen Sozialismus, die schließlich auch für die handelnden Personen der Solidarnosc prägend gewesen seien. "Mit diesen Werten ließen sich aber weder Programme noch Utopien formulieren", so Modzelewsi weiter.

Das habe man im Ungarn des Jahres 1956 anders gesehen, weiß der Schriftsteller István Eörsi: "Das ganze ungarische Volk war bereit, selbst angesichts der Niederlage für Freiheit und Gerechtgkeit zu kämpfen." Die Utopie speiste sich in Eörsis Rücklick aus der Erkenntnis, dass der sowjetische Weg nur eine Sackgasse sein konnte. Insofern habe sich die Utopie tatsächlich zur Realität entwickelt; und sei schließlich sogar das Tor zu einer anderen Welt gewesen.

Mathias Richter und Inka Thunecke beweisen mit den Interviews, dass mit den neuen Mitgliedsländern nicht nur Staaten, Bürger und Märkte in die EU gekommen sind, sondern auch andere Mentalitäten, kulturelle Identitäten, Erfahrungen und Werte. Es bedarf mit Sicherheit einiger Zeit, bis die "Verschränkung zweier Traditionslinien" (gemeint sind die ost- und die westeuropäische) greifen und funktionieren kann.

Mathias Richter, Inka Thunecke (Hg.), "Metamorphosen der Utopie. Rückblicke und Ausblicke nach Europa", Talheimer Verlag, Medienberatung und Consulting GmbH 2005, 28 Euro, 393 Seiten, ISBN 389376111X

Holger Küppers

0 Kommentare
Noch keine Kommentare