So also sieht bei Günter Grass ein Tagebuch aus.
Die verschiedenen Neigungen und Talente verweben sich.
Naturzeichnungen queren die Seiten und geben ihnen ein ganz eigenes Leben.
Ganz nebenbei wird ein Romanplan sichtbar, der von Seite zu Seite sein Konzept gewinnt. Und dazwischen das fast pflichteifrige Vermelden vom Pflanzen junger Bäume.
Das Tagebuch-Schreiben wird von dem berühmten Autor und Nobelpreisträger nur absolviert, wo gesellschaftlich Brisantes festzuhalten ist. Das Jahr 1990 ist so etwas. Grass konstatiert ein
Wiederaufleben des Nationalen und manche Töne schrecken den Seismographen im Dichter, so auch die Karriere des Wortes Wahnsinn.
Deutsch-polnischer Friedhof
Sein Romanprojekt hilft ihm, die Zeitereignisse nicht aus enger nationaler Sicht zu kommentieren. Da begegnen einander in seinem Konzept eine polnische Witwe und ein deutscher Witwer und
philosophieren darüber, wo man wohl begraben sein möchte. Vergangenheit kommt ins Spiel und gerade erst entstehende Familiengeschichten verbinden sich jedenfalls in der Hinsicht der
Familiengeschichte des Autors, dass das Deutsch-Polnische darin konstitutives Element ist.
Das besonders Interessante: Die Geschichte entwickelt sich mit den Vorboten der deutschen Vereinigung, die wiederum von Grass kritisch beäugt werden. Das betrifft vor allem Großmäuligkeit,
die er CDU-Politikern bei Verhandlungen mit der Modrow-Regierung und den Vertretern der "Runden Tische" (spezielle Form, in der sich demokratische neue Bewegungen in der DDR nach 1989 erprobten)
vorwirft. Grass' Sympathie gilt in dieser Zeit Modrow und Masowiecki, den Staatsoberhäupern der Noch-DDR und Polens ("die gedoppelte Melancholie: menschlich, wissend, leidensfähig, beinahe
anrührend").
Grass ist gegen jeden Nationalismus. Er befürchtet dessen Wiederaufleben nach der Vereinigung und bedenkt damit die Handlung seines geplanten Romans. Wie würden sich nach einer möglichen
Vereinigung die polnische und die deutsche Seite des deutsch-polnischen Friedhofsprojektes annehmen? Was für neue politische Färbungen könnten entstehen und Einfluss auf das Projekt nehmen?
Nach-89er Entwicklungen in Leipzig
Bei einem Besuch in der Noch-DDR, in Leipzig wohnt Grass bei Christian Führer, dem Pfarrer der Nikolaikirche. Der Autor beobachtet, wie die protestierenden und die Änderung der Verhältnisse
maßgeblich mit herbeiführenden jungen Leute, die bei Christian Führer in DDR-Zeiten Unterstützung fanden, nicht mehr im Zentrum, der Ereignisse stehen. Statt ihrer sind es Leute, die sich
zunächst heraushielten, wie er es einem, dem Pfarrer Ebeling, -Vertreter der neu gegründeten DSU - attestiert, die der Autor zu dieser Zeit als einen Ableger der CDU wahrnimmt.
Der Autor erlebt, wie sich die Sozialdemokratie in der DDR konstituiert, wohnt ihrem Leipziger Parteitag bei. Er bemüht sich darum, bedeutende DDR-Autoren wie Erich Loest als SPD-Mitglieder
zu gewinnen, engagiert sich, bezieht in Lesungen und wichtigen Reden Position. Er verliert sich nicht in Ungewissheiten des Aufbruchs.
Sehnsucht nach portugiesischen Kakteen
Die Fahrt durch winterlich kalte und graue Landschaften weckt im Dichter das Erinnern an portugiesische Kakteen, die Wärme im Westen der Iberischen Halbinsel am Atlantischen Ozean. Von dort
ist er am Anfang des Buches aufgebrochen. Sie sind ihm vertraut. Er hat darin seine eigenen Pflanzungen. In Sachsen fühlt er sich plötzlich fremd, trotz ihm vertrauter Freunde und Genossen, trotz
der Autoren und Autorinnen, die er lange kennt und in Berlin, Leipzig, Dresden getroffen hat.
Vorteil des Unmittelbaren
Personen der Zeitgeschichte tauchen auf: Ibrahim Böhme, der im Februar 1990 in Leipzig zum Vorsitzenden der nun in SPD umbenannten 1989 gegründeten SDP wird. Interessant die authentische
Beschreibung dieses Mannes, der später der IM-Tätigkeit bezichtigt wurde, diese aber bis zu seinem Tode bestritt. Grass hat nachträglich offenbar nichts daran geändert, wie er diesen Mann 1990
erlebte. Auch das macht den Wert des Buches aus. Man kann sich in Empfindungslagen der Zeit hineinfühlen und erfährt auch ihre Widersprüchlichkeit.
Urteil des Autors
Grass warnt vor dem Anschluss als Form der Wiedervereinigung, befürchtet negative Folgen im Verhältnis zur deutschen Vergangenheit und für den Umgang miteinander, macht darauf aufmerksam,
dass in Westdeutschland die notwendige große Investitionsbereitschaft nicht vorhanden ist, kennzeichnet ostdeutsche Hoffnungen, aber auch Ängste.
Es passt dazu,dass er während dieser Zeit über den Titel "Unkenrufe" nachdenkt.
Aktualität des Geschehenen
Diese Unkenrufe verhallen nicht ungehört, doch werden sie auch nicht mit der Aufmerksamkeit aufgenommen, die sich der Autor erwartet hat. In der Leipziger Universität liest er nicht vor
gewohnt vollem Saal.
Es kommt 1990 zu der Art der Vereinigung, vor der er und auch andere führende Sozialdemokraten gewarnt hatten. Helmut Kohl wird zum CDU-Einheitskanzler und die angekündigten blühenden
Landschaften erweisen sich nicht selten als Industriebrachen.
Kommt der Autor wieder ins Spiel, wo die Krisen des Jahres 2009 darüber nachdenken lassen, was im Gesamtdeutschen zu verändern wäre, um die Zukunft zu meistern?
Personen der Zeitschichte
Es lohnt sich, bei einzelnen Namen im Internet nachzuschauen, um zu erfahren, was später aus den betreffenden Personen geworden ist. Das Register am Ende des Buches kann dieser Aufgabe nur
zum Teil gerecht werden und der Autor hält sich strikt an die Tagebuchzeit. Der letzte Eintrag ist auf den 1.2.1991 datiert. Er beschäftigt sich mit der Haltung der Portugiesen und der Deutschen
zum Golfkrieg.
Dorle Gelbhaar
Günter Grass "Unterwegs nach Deutschland Tagebuch 1990", Steidl Verlag, Göttingen 2009, 256 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 9-783865-218810
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.