Im Jahr 2005 hatte der Maler Maciej Swieszewski, ein Professor an der Dantziger Kunstakademie, ein Bild ausgestellt, über das plötzlich in ganz Polen gestritten wurde. Es handelte sich um eine
Version des letzten Abendmahls: Im Bildaufbau Leonardos berühmtem Wandfresko ähnlich, versammelte dieses zwischen Fotorealismus und spätem Dalí angesiedelte Ölgemälde aber zeitgenössisches
Personal. Darunter befindet sich der Schriftsteller Pawel Huelle.
Auf diese Begebenheit baut er seine Geschichte auf, die in einem Danzig der Zukunft spielt. Hier ist es der Maler Mateusz der alte Freunde zum Fotoshooting einlädt. Drei davon - den Arzt
Lewada, den Physikprofessor und Geschäftsmann Wybrßnski und den Religionswissenschaftler und Initiator von lukrativen "Wahrheitspilgerfahrten" Berdo - sowie den Erzähler, der Griechisch studiert
und sich mit der Geschichte Jerusalems beschäftigt, lernt der Leser näher kennen. So wie diese selbst wird er mit deren Vorleben und den Zukunftsplänen konfrontiert. Alles dreht sicht um Geld und
Werte, Freiheit und Spiritualität, Kunst und Kommerz. Und nicht zuletzt geht es im künftigen Danzig auch um das Christentum und den Islam, denn längst haben sich zu den Kirchtürmen Minarette
gesellt.
Die Haupthandlung des Romans spielt in nur wenige Stunden eines einzigen Tages. Doch Huelle bietet darin auf einer zweiten Zeitebene auch faszinierende geschichtliche Exkurse. Auf einer
dritten - noch etwas weiter in die Zukunft verlegten - eskaliert alles. Das Gemälde wird von angeheuerten Schlägern zerstört.
Polnischer Kontext
Obwohl es viele große und stets aktuelle Fragen sind, die in diesem Buch verhandelt werden, lebt es doch vom spezifisch polnischen Kontext. Der kulturelle Hintergrund spielt kaum mehr eine
Rolle. Homophobie und die Angst vor allem Fremden bestimmen das Geschehen: Aus diesem Buch weht das Denken der Kaczynski-Ära mit ihren ständigen Politskandalen. Pawel Huelle lässt Dampf ab und
unternimmt den Versuch einer Abrechnung mit dieser Zeit.
Klarheit gibt es im Politiker Gerede nicht mehr. Der Kapitalismus hat alle Gewissheiten bis zur Unkenntlichkeit abgewirtschaftet. Wohl gleichsam um der Verfallskurve bessere Tage
entgegenzusetzen, träumt sich Huelles Erzähler in einzelnen Reflexionsschlenkern weit fort: In Bildern wird die Geschichte einer Jerusalem-Reise im 19. Jahrhundert lebendig. Im gelobten Land
jener vergangenen Zeit scheinen Wissbegierde und Glaubensfestigkeit einander noch nicht entfremdet.
Frei nach Bulgakow, dem großen russischen Satiriker, spiegelt sich in der Urzelle Jerusalem das Geschehen nicht einfach, aber tritt der Wirrnis wie zum Endgültigen verwandelt entgegen. Mit
dem Unterschied, dass Huelle nicht Christus, sondern Christuspilger auftreten lässt: Nicht mehr nach Wahrheit, nur noch nach möglichen Wegen zur Wahrheit wird gefragt in diesem pessimistischen
Sittenbild.
Der Autor Huelle hat sich als eine linksliberale Instanz seines Landes auch in der Wirklichkeit mit dem Vorbild des schlimmsten ehemaligen Solidarnosc-Freundes Peter Monsignore, einem
ultrarechts geifernden Danziger Volkspfarrer, harte Gefechte geliefert. Seine Diagnose im Roman greift noch weiter: Bei Huelle herrscht kalte Wut in Polen, weil jeder allenfalls noch an sich
selbst glaubt.
Gegenwärtiges Sittenbild
Von den Lebenswegen der Freunde bis hin zu den Albträumen des Ich-Erzählers wird immer wieder von verzweifelter sinnloser Gewalt berichtet, die Einzelne allein nach Maxime ihrer eigenen
Raison ausüben. Der Danziger Werktag etwa wird begleitet von beiläufig mitgehörten Schreckensmeldungen: Während eines stundenlangen Staus auf der "Kaczynski-Allee" erfährt einer der Freunde aus
dem Radio von einer Serie von Einzeltäter-Bombenanschlägen in der ganzen Stadt. Er vergisst den Katastrophenalltag vor dem Wagenfenster aber bald schon wieder zugunsten eigener
menschenfeindlicher Phantasien. Von hier aus mündet die polnische Malaise in apokalyptische Visionen vom Brennen und Morden in der ganzen Welt.
Und so wird am Ende des Romans nicht nur das klassische Gemäde des Malers Mateusz von Attentätern zerstört, auch Pawel Huelles humanistische Romanfiguren zerbrichen am Aufprall mit der
Gegenwart.
Pawel Huelle verarbeitet in seinem verwickelten Plot fantastische Elemente mit religionswissenschaftlichen Exkursen und Seitenhieben gegen die Kunst und den Klerus. Sein dicht gestrickter
Roman zeichnet ein Sittenbild der Gegenwart, der westlichen Gesellschaft und des Kunstbetriebs. Niederschmetternd nachdenklich. Zutiefst aufwühlend.
Mathilde Mosca
Pawel Huelle: Das letzte Abendmahl, Verlag C.H.Beck oHG München, 2009, 262 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 978-3-406-58243-1
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Ich bin Studentin aus Frankreich und absolviere Praktika von vier Monaten in Deutschland im Rahmen meines Studiumgangs "Deutsch-Französisches Studium" an der Universität Clermont-Ferrand. Im vorwärts-Verlag arbeite ich vom 20. Juli bis 21. August 2009.