Kultur

Das Leben sind mehrere Baustellen

Regisseur Bent Hamer widmet sich erneut seinem Lieblingsthema – der Grauzone zwischen naturwissenschaftlichem Verständnis und menschlichem Handeln. „1001 Gramm“ ist ein intelligenter und humorvoller Film, der uns zu mehr Chaos im durchgeplanten Leben ermuntert.
von ohne Autor · 19. Dezember 2014
Marie (Ane Dahl Torp) erforscht die Grenzen der Planbarkeit.
Marie (Ane Dahl Torp) erforscht die Grenzen der Planbarkeit.

Hamers früherer Film „Kitchen Stories“ war Norwegens Oscar-Kandidat 2003 und erzählte davon, wie Forscher in den 60er-Jahren die Lebensgewohnheiten norwegischer Junggesellen analysierten, indem sie in der Küche der Probanden auf einem Hochstuhl hockten, um von dort aus deren Alltag zu beobachten. Auch Hamers neuer Film zeigt, wie skurril naturwissenschaftliches Arbeiten anmuten kann, selbst wenn dessen objektive Bedeutung unbestritten ist. Und davon, wie Forscher außerhalb des Labors ins Straucheln geraten, wenn sie mit aller Macht Gesetzmäßigkeiten erkennen wollen. Menschen folgen nunmal anderen Gesetzmäßigkeiten.

Als Mitarbeiterin des norwegischen Eichamtes reißt Marie Ernst durchs Land, um Messgeräte wie Waagen oder die vorgeschriebene Länge einer Skrisprungschanze zu kontrollieren. Die End-Dreißigerin sorgt dafür, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Messstandards überall eingehalten werden. Sinnbild jener Maße und Zahlen ist das nationale Referenzkilo. Umgeben von einer Glaskugel und einer Metallkapsel, ruht das zu 90 Prozent aus Platin bestehende Gewicht, wie ein Schatz im Safe von Maries Behörde in Oslo. Nicht auszudenken, wenn sich die Masse des Gewichts verändert oder es beschädigt wird!

Kühle Blonde sucht Chaos

Maries Privatleben ist weniger klar geordnet, auch wenn ihr schicker, aber fast leerer Bungalow zunächst anderes vermuten lässt. Das karge Interieur ist jedoch keine Geschmacksfrage. Jeden Abend schafft ihr ausgezogener Noch-Ehemann Möbelstücke und Bilder fort. Obendrein sorgt sie sich um ihren Vater, der wieder trinkt und auch sonst eher gebrechlich ist. Vater Ernst ist seiner Tochter Bezugsperson, Vorbild und Fachkollege zugleich. Als der geschätzte Experte die Dienstreise zu einem Kilo-Seminar in Paris nicht antreten kann, nutzt Marie die Chance, aus ihrem Trott auszubrechen.

Bei der einen Reise wird es nicht bleiben. An der Seine merkt sie, dass ihr immer mehr Fixpunkte entgleiten und bekommt mehrfach Gelegenheit, ihr Leben zu überdenken. Zumal im Land der Fjorde familiär wie beruflich weitere Dinge aus dem Lot geraten. Liegt nicht gerade jetzt darin eine Chance, mehr Chaos zuzulassen, anstatt sich durch scheinbare Fixpunkte in ebenso scheinbarer Sicherheit zu wiegen? Genau das flüstert ihr Pi, ein gewitzter Ex-Wissenschaftler, der seine Karriere aufgegeben hat, um den Garten von Maries Tagungsstätte und seine demente Mutter zu pflegen. Wie viel wiegt ein Leben? Und wie viel die Liebe?

Einsame Wissenschaftlerin aus dem kühlen Norden findet sich in der flirrenden Stadt der Liebe neu – Regisseur Hamer spielt ganz bewusst mit klischeehaften Gegensätzen und legt falsche Fährten. Anstatt einen linearen Weg zu Maries Punkt der Besinnung und neuer emotionaler Erfüllung zu erfinden und diesem zu folgen, erleben wir, wie die zunächst so unnahbar wirkende Frau mit dem streng gekämmten blonden Haar innerlich wie äußerlich an mehreren Fronten kämpft. Sie muss die belastende Vergangenheit entsorgen, um die Zukunft zu erkennen. Gleichzeitig hat sie einen schweren Verlust zu verkraften. Schließlich steht auch noch die berufliche Reputation auf dem Spiel, als sie mit dem Referenzkilo im Gepäck verunglückt. Das Leben sind mehrere Baustellen. Wer kennt dieses Gefühl nicht? Selten folgte man der Entwicklung einer Figur so gespannt wie jener Marie, dargestellt von Norwegens preisgekröntem Film- und Fernsehstar Ane Dahl Torp.

Doppelbödige Erotik

Dass der Film den Zuschauer, trotz all der schwierigen Lebensfragen, am Ende in optimistischer Stimmung zurücklässt, liegt auch an dem warmherzigen und trockenen Humor der Erzählweise sowie Bildsprache. Selbst Momente der Erotik umweht eine Doppelbödigkeit, die bis zum Schluss für Spannung sorgt.

Nicht zu vergessen sind die amüsanten Ausflüge in die Welt der Kilos. Die internationalen Forscher, die sich in Paris versammeln, werden nicht als detailsüchtige Freaks bloßgestellt. Trotzdem ergibt sich die Komik von selbst, wenn diese engagierten Menschen – übrigens vor realem Hintergrund – über den Fortbestand des Kilos als einzige sich an einem physischen Objekt orientierende Maßeinheit und dessen Rolle für die globale Verteilungsgerechtigkeit debattieren, ihr Referenzkilo wie ein behütetes Kleinkind durch den Garten tragen oder andächtig das weltweit gültige Urkilo betrachten. Das alles in langen und oftmals statischen Einstellungen, die eine formale Strenge verströmen, aber auf den zweiten Blick berührende Zwischentöne offenbaren.

Info:

1001 Gramm (Norwegen/ Deutschland/Frankreich 2014), Buch und Regie:Bent Hamer, mit Ane Dahl Torp, Laurent Stocker, Stein Winge u.a., 87 Minuten.

Ab sofort im Kino

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